Sonntag am "Tatort"

"Tatort: Ihr werdet gerichtet": Der schönste Moment

04.09.2015, 07.45 Uhr
von Detlef Hartlap
Die Beziehung von Simon Amstad (Antoine Monot Jr.) und Karin Amstad (Sarah Hostettler) gestaltet sich schwierig.
BILDERGALERIE
Die Beziehung von Simon Amstad (Antoine Monot Jr.) und Karin Amstad (Sarah Hostettler) gestaltet sich schwierig.  Fotoquelle: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler

Sensationell starker Auftakt zur neuen Tatort-Saison: Ein Mann, eine Frau und die Gerechtigkeit des Todesschusses.

Der schönste Moment kommt immer kurz vor der finalen Katastrophe. Das ist nicht nur eine Umkehrung einer der berühmtesten Textzeilen der Popgeschichte, es charakterisiert auch den wunderbar-traurigen neuen Tatort aus Luzern und macht ihn zugleich für die Spanne einer schüchternen Zärtlichkeit unerträglich spannend. 

Die Textzeile lautet übrigens: The darkest hour is always just before the dawn, gesungen von David Crosby vom legendären Woodstock-Trio Crosby, Stills & Nash.

In Luzern findet ein Mörder, von dem man annehmen darf, dass seine Frau und was ihr widerfahren ist, das Motiv für sein Morden war, zu seiner Frau zurück. Sie hatte sich von ihm abgewendet und ganz in sich eingeschneckt. Und dann passiert, was den Film auf den  Kopf stellt.

Der Zuschauer hofft, für sie, für ihn, für einen Mörder

Als sich die Schlinge der polizeilichen Ermittlung um den Mann zuzieht, erkennt die Frau, was der Mann getan hat (für sie?). "Soll ich mich stellen?", fragt er. "Dann habe ich ja niemanden mehr", sagt sie. Der Zuschauer hofft, für sie, für ihn, für einen Mörder.

Die Frau wird von Sarah Hostettler gespielt, ein Name, den man sich merken muss, ein Gesicht, das an die junge Barbara Auer erinnert, die sich noch nicht auf Brunetti eingelassen hatte und ihr enormes Talent im deutschen TV-Einerlei vergeudete.

Der Mann wird von Antoine Monot Jr. dargestellt, der sein Ansehen als "TechNick"-Werbewitzfigur eigentlich hinreichend ramponiert hatte, dass man ihm seriöse Rollen gar nicht mehr zutraute. Doch wie Hostettler ist Monot Jr. sensationell. Der ganze Tatort ist sensationell. Dabei kommt er aus Luzern ...

Wie mit dem Fußball

Mit dem Tatort verhält es sich inzwischen wie mit dem Fußball. Bekanntlich geht ein großes Aufatmen durchs Land, wenn es heißt: Endlich wieder Bundesliga! Beim Tatort freut sich das Publikum, wenn die vielen Wiederholungen, die das ganze Jahr über gesendet werden und im Sommer auch sonntags, endlich um frische Ware ergänzt werden. Ob die erste Folge nach dem Sommerloch davon beeinträchtigt wird, dass sie aus Luzern kommt? Möglich. Der letzte Tatort vor den Sommerferien kam ebenfalls aus Luzern und war ein Desaster, als Film und auch von der Zuschauerresonanz her.

Die neue Folge heißt Ihr werdet gerichtet und ist, das darf man verraten, um Klassen besser als die Frankfurter und Münchner Tatort-Folgen, die in den nächsten Wochen gesendet werden. Und das, obwohl Luzern Luzern bleibt, also zu klein und zu unglaubwürdig ist für angedeutete Massenpanik und  das angedeutete Verbrechenspotenzial. Und obwohl Stefan Gubser und Delia Mayer in den Rollen der ermittelnden Polizisten immer polizeiähnlicher werden, was nur einen Gewinn an Grautönen in ihren Gesichtern bedeutet, nicht aber an Attraktivität. 

Es sind der rührige Monot Jr. und Sarah Hostettler als resigniert verstummter Widerpart, die den Film tragen. Monot Jr. führt sich mit einem Doppelmord in die Geschichte ein, ein Auftakt, wie man ihn auch noch nicht gesehen hat. Doch als man anfängt zu glauben, es könne sich um einen kaltschnäuzigen Killer handeln, tritt er uns bald als armes Würstchen entgegen, das nach einer Möglichkeit der Gerechtigkeit sucht und sie in der Selbstgerechtigkeit seiner Hinrichtungen zu finden meint.

Seine Frau ist vergewaltigt worden und lebt die traumatischen Folgen in extremer Verkapselung aus. Von ihrem Mann lässt sie sich nicht mehr anrühren, an einen Prozess ist in absehbarer Zeit nicht zu denken. Der einzige, demgegenüber sie sich bei einer Zigarette zaghaft öffnet, ist ein arbeitsloser Freund des Paares, dargestellt von Misel Maticevic.  

Im Laufe des Films wird mehr als nur angedeutet, dass es in der Schweiz möglicherweise eine Menge Gerichtsverfahren gibt, die auf die lange Bank geschoben werden – weil die Gesetzeslage schwierig ist, weil die Staatsanwälte überlastet sind und weil der Eifer fehlt, vermeintlich bessergestellten und unbescholtenen Bürgern gerichtlich auf die Pelle zu rücken.

Das Interesse der Behörden steigt denn auch sprunghaft, als Monot Jr. einen Börsenbroker niederstreckt, der sich vermutlich kaum noch erinnerte, dass tief unter Aktenbergen ein Verfahren auf ihn wartete.

"Ohne diesen Rauswurf wäre ich heute nicht da, wo ich bin"

Antoine Monot trägt sein "Jr." wie ein seltenes Tattoo, wie ein Distinktionsmerkmal, denn einen Antoine Monot Sr. hat es nie gegeben. Er entstammt einer deutsch-schweizerischen Künstlerfamilie, wuchs in Frankfurt auf, flog irgendwann aus disziplinären Gründen von der Zürcher Schauspielschule (und zwar aus der Regieklasse), was ihn aber nicht weiter stoppen konnte: "Ohne diesen Rauswurf wäre ich heute nicht da, wo ich bin."

In die an Schläfrigkeit nicht zu überbietende Bremer Tatort-Szene fuhr er vor Jahren als Ermittler Leo Uljanoff wie ein neuer Hahn in ein Gehege frustrierter Hennen und wurde der prompt aufblühenden Kommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) zum jugendfrischen Liebhaber. Auch hier ließe sich feststellen: Der schönste Moment kommt immer kurz vor der finalen Katastrophe, denn den Bremer Bonsai-Hanseaten entfachte er entschieden zu viel Wind. Schon in der zweiten Folge mordete ihn das Drehbuch wieder aus dem Geschehen hinaus – mit einem Messerhieb.

In Luzern spielt Monot Jr. einen Mann, der das Recht in seine Hände nimmt, um seine Frau zurückzugewinnen. Er ist kein gelernter Killer oder gar ein Raskolnikoff, der sich einbildet, ein Mord an, wie er meint, unwertem Leben zähle nicht. Hier haben wir es mit einem Verzweifelten zu tun, den zwei Leidenschaften treiben, die zu seiner Frau und die zum Signieren seiner Patronen, die er sorgfältig präpariert. Für das, was er damit anstellt, bleibt er eine Nummer zu klein.

Ein menschliches Drama, das auf den einen schönsten Moment hinsteuert und in der unvermeidlichen Katastrophe endet.

Dramaturgischer Kunsthonig

Kein Drama, das sei ausdrücklich vermerkt, bei dem es um die Unmöglichkeit einer Gerechtigkeit innerhalb einer überforderten Justiz geht. Zwar werden sich viele Tatort-Rezensionen auf diesen Aspekt stürzen, doch stellt er nicht mehr als dramaturgischen Kunsthonig dar. Die Schweiz ist ein Rechtsstaat, und Strafverfahren kommen im Schnitt schneller als in Deutschland zu einem Ende.

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