Sonntag am Tatort

"Tatort: Niedere Instinkte": Verhinderte Mütter und Männer, die sich opfern

26.04.2015, 08.00 Uhr
von Detlef Hartlap
Die achtjährige Magdalena Harries (Martha Keils) erscheint am Montagmorgen nicht in der Schule. Sie wurde entführt.
BILDERGALERIE
Die achtjährige Magdalena Harries (Martha Keils) erscheint am Montagmorgen nicht in der Schule. Sie wurde entführt.  Fotoquelle: MDR/Saxonia Media/Junghans

Unglaubwürdig, aber gut: Die letzte Folge mit den Ermittlern Saalfeld und Keppler ist der beste Leipziger Tatort überhaupt.

Bei den meisten Tatortkommissaren hat es sich eingebürgert, sie als  Paar zu sehen: Thiel & Boerne, Falk & Lorenz, Ballauf & Schenk. Bei Martin Wuttke und Simone Thomalla kam dieses Gefühl selten auf. Das ist umso erstaunlicher, als die beiden, wie es die Vorgeschichte zu ihren nunmehr 21 gemeinsamen Tatort-Folgen will, in naher Vergangenheit ein Paar waren, das sich privat auseinandergelebt hat, jedoch im Zustand beruflichen Ungeschiedenseins gemeinsam weitermachen muss.

Das gelegentliche Aufflammen von Nähe und Sorge

Nein, sie waren kein Paar, nicht einmal ein glaubhaftes Team. Dazu war das gelegentliche Aufflammen von Nähe und Sorge zu gekünstelt, und wenn Andreas Keppler (Wuttke) seiner Ex und Kollegin Eva Saalfeld (Thomalla) eine Liebeserklärung zurief, was ab und zu vorkam, dann wirkte es aufgesetzt, weil es eben wie ein Zuruf wirkte – wie ein unvermittelt herausposauntes Statement.

Das hatte viele Gründe. Einer lag im professionellen Leistungsgefälle zwischen Thomalla und Wuttke begründet. Angeblich soll Wuttke, den man zu dem überschaubaren Kreis deutscher Großschauspieler zählen darf, Simone Thomallas ureigenste Wahl als Partner für den Leipzig-Tatort gewesen sein. Aber ohne Frage hatte sie sich damit eine Menge aufgebürdet, zumal sie sich im Laufe der Folgen anscheinend einer Schönheitsbehandlung unterzog, die ihre mimischen Möglichkeiten vorübergehend einschränkte (gute Drehbücher hätten darauf Rücksicht genommen).

Das lag aber auch daran, dass der Schauplatz, Leipzig, zwar oft äußerlich wiedererkennbar war, nie aber in seinem Charakter und seiner inneren Substanz in die Folgen einfließen durfte. Vordergründig wurde das am Fehlen der Mundart deutlich. Alle sprachen Hochdeutsch, nur Kepplers Pensionswirt, Schmitz mit Namen, durfte ein klein wenig sächseln. Doch wurde auch er nicht wirklich zur Standardfigur und ging vor der Zeit ganz verloren.

Völlige Unkenntnis von zentralen Punkten

Die Leipzig-Fremdheit des Teams äußerte sich wiederholt in völliger Unkenntnis von zentralen Punkten wie Hauptbahnhof und Universität, deren Vorhandensein ihnen so fremd war, dass sie sich die nötigen Informationen (Drogen, Prostitution etc.) im Stile von Volkshochschuleinheiten gegenseitig referierten (auch hier hätten bessere Drehbücher notgetan).

Nun also die Abschiedsfolge, "Niedere Instinkte". Man hat sich beim MDR, der manches verschludert hat, nicht lumpen lassen und einen renommierten Drehbuchautor aufgeboten, Sascha Arango, und eine Regisseurin, Claudia Gardes, die auf Feinheiten mehr Wert legt als auf ultimative Spannung, gerade dadurch aber einiges an Suspense zu erzielen vermag.

Und man hat sich auch von her Besetzung her Großkaliber gegönnt: den dänischen Action-Star Jens Albinus, der hier als allzu treusorgender Ehemann und ganz ohne Action überzeugt; und Susanne Wolff, die spätestens seit ihrer Mutterrolle im WDR-Tatort "Der Fall Reinhardt" von 2014 zu den (beim Fernsehen) gefragtesten Theaterstars in Deutschland gehört.

Auch hier ist sie Mutter. Eine, wie es sie im Prinzip zu Tausenden gibt. Eine Mutter, die sich als solche fühlt, die alles für ihr Kind tun, machen, einrichten würde und alle Vorbereitungen auch längst getroffen hat - der aber das eigene Kind aus einer Laune der Natur verwehrt bleibt.  

Ein ärgerliches Klischee

Jens Albinus, ihr Mann, stiehlt ihr eins. Er entführt die Grundschülerin Magdalena, die sich auf dem Heimweg befindet, in einer Fußgängerunterführung. Ein ärgerliches Klischee. Wann immer ein Mädchen in einem deutschen Krimi eine Unterführung passiert, wird sie ermordet oder entführt. Jens Albinus präsentiert seiner schönen Frau die Beute Kind wie ein Opfer. Er, der Unterlegene in dieser Beziehung, der sexuell Abhängige, hofft inständig: Jetzt habe ich meinen Teil getan, jetzt wird sie, die wunderbare Frau, auch wieder gut zu mir sein.

In einer Hinsicht haben wir es mit einem typischen Sascha-Arango-Plot zu tun: Wir brauchen als Zuschauer nicht zu rätseln, wer der Täter ist, wir kennen ihn bzw. wir kennen das Täterpärchen quasi von der ersten Minute an. Und, der/die Täter haben mehr als nur eine Schraube locker, sie bewegen sich auf einem Schwebebalken über der bürgerlichen Normalo-Existenz auf der eine Seite und dem Runterplumpsen in den Wahnsinn auf der anderen. Susanne Wolff ist zum Niederknien in ihrer fragilen, hemmungslos ichbezogenen Normalität, die den Boden einer normalen kleinen Störung verlassen hat.

Thomalla und Wuttke fungieren diesmal mehr als Buffo-Pärchen, das so etwas wie Edward Albee ("Wer hat Angst vor Virginia Woolf?") für Arme spielen darf - mit melodramatischen Wortwechseln in der Polizeikantine, mit Hieben und Ohrfeigen und hanebüchenen Eifersuchtsszenen, dazu auch mit jenem Beiseitesprechen à la Martin Held im berühmten Tukur-Tatort "Im Schmerz geboren" und einem hübschen Happy End, wie es sich für eine letzte Folge aus Leipzig gehört.

Was Arango verpasst: Den Streit zwischen Saalfeld und Keppler in ein nachvollziehbares Verhältnis zu der vergifteten Erotik der beiden Kindesentführer zu stellen. Dass Saalfeld dereinst den Moment verpasst hat, ein Kind zu bekommen, taugt nicht im Geringsten zur Parallele.

Es gibt noch ein paar Paar in diesem Film, die Eheleute Harries (Picco von Groote und Alexander Scheer), die Eltern von Magdalena. Sie gehören einer harmlos-abgedrehten christlichen Sekte an und sollen von der Anlage des Drehbuchs her offenkundig der Bespaßung des Publikums dienen. Die Entführung erschüttert sie nicht in ihrem Glauben, das Gott (nicht die Kripo) es richten werde.

Eine stabile Seele mit gesundem Selbstvertrauen

Regisseurin Claudia Garde denkt indes zu keiner Sekunde daran, dieses Paar und ihre Mitstreiter dem wohlfeilen Spott zu überlassen. Sie sind komisch gewiss, aber schon an der Art, wie Magdalena ihr Schicksal erträgt, lässt sich eine stabile Seele mit gesundem Selbstvertrauen erkennen. Ihr Vater versucht unterdessen, mit einer Opferhandlung, wie sie zum allerältesten Frömmigkeitsritual der Menschheit gehört, seine Tochter zu retten. Saalfeld und Keppler begreifen das nicht einmal im Ansatz. Auch Jens Albinus opfert sich, heimlich, still und sehr laut. Aber nicht aus Frömmigkeit.

Ein paar Konstruktionsmängel, Unglaubhaftigkeiten, Albernheiten – und doch wollen wir nicht meckern: Wären die Leipzig-Tatortfolgen immer so vielseitig interessant und temperamentvoll gewesen, stünden Simone Thomalla, Martin Wuttke und ihre Mitstreiter vom Revier, voran Maxim Mehmet als Gerichtsmediziner Wolfgang Menzel, noch lange in  polizeilichen Fernsehdiensten.

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