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Netflix-Serie "Wermut": Storytelling im Kinoformat

von Andreas Fischer

Wie er da so durch die Nacht fliegt, könnte man meinen Frank Olson wäre ein Engel. Aber einer, der 1953 ziemlich hart auf dem Boden der Realität aufschlägt – und stirbt. Wobei die Sache mit der Realität so eine Sache ist: Der Biochemiker hatte an einem geheimen Programm mitgearbeitet, mit dem die CIA bewusstseinserweiternde Drogen testete, um Spionen im Kalten Krieg die Wahrheit entlocken zu können. Eine ziemliche schmutzige Angelegenheit war das, die in den USA einst ziemlich viel Staub aufwirbelte: Oscar-Preisträger Errol Morris "(The Fog Of War") rollt sie in der sechsteiligen Netflix-Dokuserie "Wermut" (Originaltitel: "Wormwood") ab 15. Dezember noch einmal auf.

Der Staub hat sich mittlerweile gelegt, fast überall. Nur Frank Olsons Sohn Eric kann noch immer nicht klar sehen. Er steht zusammen mit seinem Vater im Zentrum des viereinhalbstündigen Doku-Faszinosums, das von Errol Morris mit allerhand Kunstgriffen sehr spannend erzählt wird: als Mix aus klassischen Dokumentarformen und nachgespielten, fiktionalen Szenen. In denen spielt Peter Sarsgaard ("An Education", "Die glorreichen Sieben") Frank Olson in seinen letzten Tagen – nachdem er von der CIA unwissentlich LSD verabreicht bekommen hatte.

Verschwörungstheorien und Vertuschungsversuche

"Wermut" – das ist sechs Folgen lang Storytelling im Kinoformat. Das große Drama eines Lebenstragikers, ein Verschwörungsthriller und Krimi, eine Geschichtsstunde im Noir-Look und insbesondere interessant, weil sich Morris treiben lässt, anstatt auf ein Ziel hinzuarbeiten. Das Rätsel um Frank Olsons Tod, die CIA und das MKULTRA-Programm, wird die Dokuserie nicht lösen. Das wäre nach mehr als 60 Jahren auch schwer vorstellbar gewesen.

Mit dem MKULTRA-Programm wollte der US-Auslandsgeheimdienst im Kalten Krieg das ultimative Wahrheitsserum finden, experimentierte mit Möglichkeiten der Bewusstseinskontrolle durch LSD und Mescalin. Dabei überschritt die CIA die Grenzen der Legalität, was Mitte der 1970-Jahre von einer Untersuchungskommission des Kongresses aufgearbeitet wurde.

Ist sein Vater freiwillig aus dem neunten Stock eines Hotels in Manhattan gesprungen? Oder wurde er gestoßen? War es Suizid oder Selbstmord? Eric Olson glaubt noch immer daran, das Geheimnis lüften zu können. Dafür lebt er. Morris lässt ihn in langen Interviewsequenzen reden – und hört vor allem Verschwörungstheorien über Vertuschungsversuche der Regierung, und – mal mehr, mal weniger – plausible Erklärungen, warum sein Vater als CIA-Mitarbeiter ins tödliche Visier seines Arbeitgebers geriet.

Wieviel man davon glauben will, bleibt jedem selbst überlassen. "Wermut" legt sich nicht fest, sondern spielt mit den Wahrnehmungen. Errol Morris beleuchtet mal die eine, mal die andere Facette, lässt Eric gewähren, während Freunde das durch seine Obsession verschenkte Potenzial bedauern und sich in den Spielszenen Fakten und Fiktion vermengen. Was wirklich geschehen ist? Das wird man nie erfahren. Aber wenigstens hat man eine verdammt gute Doku darüber gesehen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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