Oscar-Nominierter aus Italien

Der Traum von einem besseren Leben – Kritik zum italienischen Filmdrama „Ich Capitano“

06.04.2024, 10.18 Uhr
von Gregor-José Moser
Neu im Kino „Ich Capitano“: Kritik zum aufwühlenden Drama, das Denkanstöße liefert.
Neu im Kino „Ich Capitano“: Kritik zum aufwühlenden Drama, das Denkanstöße liefert.  Fotoquelle: Greta De Lazzaris

„Viele Tote bei Untergang von Flüchtlingsboot“: Schlagzeilen wie diese sind seit Jahren nicht mehr aus den Nachrichten wegzudenken. Gleichzeitig werden Rufe nach einer schärferen Migrationspolitik laut. Das Drama „Ich Capitano“ kommt da genau zur richtigen Zeit.

Die Teenager Seydou und Moussa leben in einem kleinen Dorf im Senegal. Es ist ein einfaches und bescheidenes Leben, in denen Fußballspielen und gemeinsames Musizieren zu den Höhepunkten des Alltags gehören. Seydou wohnt zusammen mit seinen Schwestern und seiner Mutter in einem kleinen Haus. Mit seinem besten Freund Moussa teilt er nicht nur die Liebe zur Musik, sondern auch einen großen Traum: den Traum von Europa, von einer Karriere als Musiker, von einem besseren Leben. Seit Monaten legen sie für diesen Traum Geld zurück, gehen nachmittags nach der Schule arbeiten. Mit ihren Familien können sie nicht darüber reden. Zu groß ist die Sorge der Eltern, dass den beiden Jungs unterwegs etwas zustoßen könnte.

Eine schwere Entscheidung

Wer seine geliebte Heimat verlässt, um die Reise nach Europa anzutreten, tut das nicht einfach aus einer Laune heraus. Das macht „Ich Capitano“ schnell deutlich. Als Seydou und Moussa aufbrechen, lassen sie nicht weniger als ihr gesamtes Leben zurück: ihren Schulalltag, die eigenen vier Wände, Freunde und Familie. Leichtfertig oder um in europäischen Ländern Sozialleistungen abzugreifen (wie auch in Deutschland nicht nur Rechtsgesinnte es behaupten) – sagt niemand Lebewohl zu seinem gesamten Leben. Der Film konzentriert sich vor allem auf die Perspektive von Seydou. Er hadert länger als Moussa, ist sich unsicher, ob er wirklich mitkommen soll. Das liegt vor allem an der tiefen Verbundenheit mit seiner Mutter. Er will ihr keine Sorgen bereiten und sie nicht enttäuschen. Schließlich bricht er mit Moussa auf, ohne seiner Mutter etwas davon zu sagen.

Die Geschichte zweier Freunde

„Ich Capitano“ ist ein aufwühlender Film. Einer, bei dem man im Kino erst noch eine Weile nachdenklich sitzen bleibt, bevor man aufsteht und den Kinosaal verlässt. Auch an den kommenden Tagen lässt er einen nie völlig los. Das liegt sowohl an der emotionalen Story als auch an der Umsetzung – und nicht zuletzt an den beiden jungen Laiendarstellern Seydou Sarr und Moustapha Fall in den Hauptrollen. Sie verkörpern Gefühle, Leid und Hoffnungen ihrer Charaktere mit ebenso viel Glaubwürdigkeit wie Kraft. Obendrein könnten sie nicht besser zusammen harmonieren: Wie die beiden Freunde miteinander umgehen, sich beschützen und unterstützen, sich manchmal auch freundschaftlich necken ist liebenswürdig und schön mitanzusehen. So bekommen wir als Zuschauer ein Gefühl dafür, was auf dem Spiel steht und was in den beiden vorgeht. Und nicht zuletzt stehen die zwei für Millionen anderer junger Menschen auf diesem Planeten, die von einem anderen Leben träumen.

Schlepper, Banditen, Gewalt

Die Handlung des Films zeichnet die ganze Tortur nach, die Menschen wie Seydou und Moussa mitmachen müssen, um nach Europa zu gelangen. Falls sie dort lebend ankommen. Es beginnt mit kriminellen Schlepperbanden, die sich gegen überteuerte Summen den verzweifelten Menschen annehmen. Schlicht, weil diese oft keine Möglichkeit haben, auf legalem und sicherem Weg ihr Ziel zu erreichen. In den Augen der Schlepper sind ihre „Kunden“ weniger Menschen als Waren. Entsprechend eng stopfen sie sie zusammen auf die Ladefläche eines Jeeps. Fällt jemand während der wilden Fahrt durch die Wüste herunter, fahren sie achtlos weiter. Neben den Schleppern haben es auch Banditen und andere militante Gruppen auf sie abgesehen. Sie bringen Gewalt, Versklavung, den Tod. Bevor die Geflüchteten überhaupt auf die überfrachteten und unsicheren Schiffe kommen, die wir aus den Nachrichten kennen, erwarten sie also noch deutlich mehr Gefahren.

Ein Denkanstoß für Privilegierte

„Ich Capitano“ glänzt vor allem erzählerisch – denn obwohl so viel erzählt wird, fühlt sich der italienische Film zu keiner Sekunde zäh oder gehetzt an. Das Drehbuch präsentiert sich detailreich, aber nicht überfrachtet. Das Erzähltempo ist von der ersten bis zur letzten Einstellung richtig gewählt. Während kleinere Aspekte schneller abgehandelt werden, nimmt sich „Ich Capitano“ vor allem bei der Einführung seiner Protagonisten Zeit. Wir lernen Seydou und Moussa sowie Kultur und Alltag in ihrer senegalesischen Heimat kennen – und wissen folglich, was sie alles zurücklassen müssen, wie hart ihre Entscheidung gewesen sein muss. Auch technisch gibt sich das Drama keinerlei Blöße. Die Kamera liefert beeindruckende Landschaftsaufnahmen. Schnitt, Produktionsdesign und Co. sind stimmig. Dass „Ich Capitano“ bei den diesjährigen Oscars als bester internationaler Film nominiert wurde, ist mehr als gerechtfertigt. Der Film kritisiert diejenigen, deren Geschäftsmodell das Leid und die Verzweiflung Anderer ist. Aber auch jene in Europa, die die Seenotrettung herunterfahren wollen und gegen Geflüchtete hetzen. Ein Denkanstoß für uns alle.

„Ich Capitano“ kommt am 4. April 2024 in die deutschen Kinos.

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