Marco Russ im Interview

Der wichtigste Sieg seines Lebens

08.11.2021, 09.55 Uhr
von Felix Förster
Marco Russ hat ein Buch geschrieben.
Marco Russ hat ein Buch geschrieben.  Fotoquelle:  Sebasatian Fuchs

Als Marco Russ 2016 an Krebs erkrankt, nimmt der Fußballprofi von Eintracht Frankfurt den Kampf gegen die Krankheit an und gewinnt. Nun hat er seine Biografie veröffentlicht. prisma hat mit ihm gesprochen.

Sie sind jetzt als Analyst bei Eintracht Frankfurt tätig. Was genau verbirgt sich hinter der Bezeichnung?

Marco Russ: Wir sind ein Team von vier Leuten: Ein Zweier-Team analysiert die eigene Mannschaft, das andere bereitet den Gegner vor, seziert ihn, zeigt unserem Trainer Stärken und Schwächen auf. Wir machen viel Videoanalyse und geben jedem unserer Spieler Infos über seinen Gegenspieler.

Eintracht Frankfurt ist Ihr Club, Sie haben bis auf einen Zwischenstopp in Wolfsburg immer nur für die Eintracht gespielt. Was ist das Besondere an dem Verein?

Marco Russ: Wenn man im Raum Frankfurt groß wird und fußballinteressiert ist, wächst man entweder als Frankfurt- oder als Offenbach-Fan auf. Meine Seite neigte da zur Eintracht (lacht). Da gehst Du als kleiner Junge ins Stadion, bei mir damals noch das alte Waldstadion, und bemerkst direkt diese besondere Verbindung zwischen Fans und Verein, zwischen Fans und Mannschaft. Für mich war das irgendwann ein Privileg, dies dann auch als Spieler mitzuprägen. Die Beziehung zwischen Mannschaft und Fans hat sich in den letzten Jahren noch einmal enorm vertieft.

Gerade durch die Europokalspiele Anfang der 2010er-Jahre wurde diese Verbindung erneut geweckt, wenn man da an die vielen Fans in Bordeaux denkt. Bei den Frankfurter Fans kann man ja wirklich teilweise von "Wahnsinnigen" sprechen.

Marco Russ: Unsere Fans haben immer neue Maßstäbe gesetzt, auch was die Choreographien anbelangt. Diese Leidenschaft, diese Ideen haben nicht nur unsere Region begeistert, sondern deutschlandweit und darüber hinaus für Respekt gesorgt.

Ihr Buch "Kämpfen. Siegen. Leben." ist nun erschienen, darin beschreiben Sie Ihre Karriere von den Anfängen bis zum Status als Profifußballer, später dann Ihre Krebserkrankung. Wie kam es zu der Idee, ein Buch mit dem bekannten Fußball-Journalisten Axel Raack zu schreiben?

Marco Russ: Ein Freund hatte die Idee. Ich selbst hatte nie überlegt, ein Buch zu schreiben. Ich muss auch ehrlich sagen, dass ich nie ein Bücherwurm war, der viel gelesen hat. Höchstens im Urlaub mal (lacht). Aber der Kumpel hat dann den Kontakt vermittelt. Ich war am Anfang erst sehr skeptisch, weil ich mir dachte: Ich bin jetzt 36 und habe meine Karriere gerade beendet. Warum soll ich da schon eine Biografie schreiben? Memoiren schreiben doch eigentlich Leute, die viele unterschiedliche Sachen erlebt haben. Menschen wie Reinhold Messner, der ein gewisses Alter erreicht hat, der den Mount Everest bestiegen hat. Da war ich mir zunächst gar nicht sicher, ob ein Buch von mir Sinn macht und es gut ankommt.

Sie schreiben chronologisch über Ihr Leben, Ihre Krebserkrankung kommt nach gut Dreiviertel des Buches zur Sprache. Mir ist aufgefallen, dass Sie einerseits sehr offen und ehrlich darüber berichten, aber auch ein wenig distanziert, fast lapidar. Ist dieser Eindruck richtig?

Marco Russ: Ja, das stimmt. Aber das war schon immer meine Einstellung zu vielem, dieses Lockere, Lapidare. Als Beispiel kann ich da nur die Kritiken oder Noten in den Tageszeitungen oder Magazinen nennen, die ich als Spieler erhalten habe. Ich habe das immer locker gesehen. Ich wusste, wenn ich gut spiele, vielleicht ein Tor mache, dann werde ich hochgejubelt. Ich wusste aber auch, dass die Schelle kommt, wenn ich schlecht spiele. Ich habe schnell gelernt, damit umzugehen. Für meine damalige Frau war das ein viel größeres Thema, sie hat sich darüber viel mehr den Kopf zerbrochen und sich darüber aufgeregt, wenn Schlechtes über mich geschrieben wurde, wenn da negative Kommentare kamen. Ich war immer ein lockerer Typ, jemand, der die Sachen angenommen hat und sich nicht den Kopf darüber zerbrochen hat, wenn irgendetwas anstand. Und ein wenig bin ich so auch an die Krankheit herangegangen.

Dass die Krankheit bei Ihnen 2016 entdeckt wurde, war ja einem unglaublichen Zufall geschuldet. Ihr Kollege Änis Ben-Hatira, der damals auch bei Eintracht Frankfurt spielte, hatte bei Snapchat ein Foto mit Ampullen und einem Dopingmittel gepostet. Die nationale Antidopingagentur (NADA) reagierte darauf und ließ kurzerhand vier anstatt der üblichen zwei Spieler kontrollieren, unter anderem auch Sie. Die Proben waren sogar strenger als üblich: es wurde Blut abgenommen. Ihre Werte waren wegen des Krebses erhöht, man dachte zunächst aber an Doping. Wenn Sie heute daran denken, was empfinden Sie da?

Marco Russ: Das war auf der einen Seite Glück, aber auf der anderen Seite denke ich mir, die NADA (Die "Nationale Anti Doping Agentur" führt die Doping-Kontrollen in der Bundesliga durch, Anmerkung der Redaktion) hätte das eigentlich auch schon früher sagen können, da die Ergebnisse ja schon viel früher vorlagen. Aber sie wollten mich noch ein-, zwei-, dreimal testen, um sicher zu gehen. In den drei, vier Wochen hätte aber noch was anderes passieren können. Damals stand ja das Doping im Raum wegen meiner erhöhten Werte, vielleicht wollten sie einfach noch mehr Beweise sammeln.

Trotz der Diagnose haben Sie das Relegationsspiel gegen Nürnberg mitgemacht und sind teilweise sogar dafür kritisiert worden, vor diesem wichtigen Spielen von Ihrer Krankheit zu berichten. Erklären Sie doch einmal, warum Sie sich entschieden haben, mitzuspielen, trotz dieses Schocks.

Marco Russ: Uns blieb einfach keine andere Wahl. Wir hätten das am liebsten gar nicht publik gemacht, gerade vor so einem Spiel nicht, weil das Thema dann natürlich trotz all der Fokussierung alles andere überstrahlt. Die Presse hatte aber erfahren, dass ein Dopingverdacht vorliegt. Wenn Du gebrandmarkt bist mit etwas, dann lässt Dich das nicht mehr los. Wenn wir das nicht klargestellt hätten, dann hätte es Gerüchte gegeben. Dann gibt man Marco Russ bei Google ein und es kommt "Doping". Wir wollten das klarstellen, der Zeitpunkt war natürlich ungünstig, keine Frage. Aber bevor die Presse dann etwas schreibt und irgendwelche Gerüchte entstehen, haben wir gedacht, machen wir reinen Tisch und geben die Infos raus. Natürlich war das auch für Nürnberg nicht leicht.

Ihr Kampf gegen den Krebs ging dann nach diesen Spielen richtig los. Gerade die Schilderung der zweiten Chemotherapie lässt den Leser mitfühlen, was es bedeutet, dies durchstehen zu müssen. Wenn Sie heute daran zurückdenken, wird man da gelassener bei anderen Problemen?

Marco Russ: Meine Einstellung zum Leben hatte sich schon verändert, als die Kinder kamen. Fußball war früher alles, man ist damit groß geworden, es war das Hobby, das zum Beruf wurde. 24/7 für den Verein sozusagen. Dann kommen die Kinder zur Welt, und es verschiebt sich alles. Durch die Krankheit merkst du dann plötzlich, dass der Sport dir da nichts bringt. Dir hilft der Sport nicht bei der Heilung, da sind andere Dinge dann wichtiger. Auch das Gefühl für den eigenen Körper verändert sich noch einmal, man wird sensibilisiert.

Wie haben Sie Ihr Leben nach der Krankheit verändert? Hört man da anders in seinen Körper hinein?

Marco Russ: Ja, definitiv. Ich achte jetzt vielmehr auf die Signale, die der Körper mir sendet, und mir sagt: "Irgendwas ist hier gerade". Sei es eine Erkältung oder ähnliches.

Hatte die Krankheit auch Auswirkungen auf Ihre Mannschaftskameraden? Haben Sie denen geraten, sich auch untersuchen zu lassen?

Marco Russ: Als ich dann wieder angefangen habe, leicht zu trainieren, und die Chemo vorbei war, gab es Gespräche. Natürlich haben die Mitspieler gefragt, wie es war. Sie wollten natürlich auch wissen, wie es mir geht und was die Krankheit bei mir bewirkt hat. Von daher hat man sich schon darüber unterhalten, aber nicht wirklich intensiv. Höchstens mit dem einen oder anderen Spieler, zu dem man eine engere Bindung hat.

Bemerkenswert sind Ihre Schilderungen, wie Sie sich wieder auf den Platz zurückgekämpft haben. Gab es da auch mal Zweifel oder wussten Sie, dass Sie das schaffen?

Marco Russ: Zweifel gab es nie. Das Wiederaufbautraining war natürlich hart, die ersten Wochen musste ich immer das Gleiche machen, das war sehr eintönig. Da denkt man sich schon, hier bewegt sich ja überhaupt nichts. Es wird nichts besser, das geht nicht schnell genug. Diese Geduld zu behalten, war nicht einfach. Ich habe mir aber immer Etappenziele gesetzt, die ich auch gut geschafft habe. Das waren dann kleine Erfolgserlebnisse, die mich haben weitermachen lassen. Die Fokussierung, dass ich unbedingt wieder auf dem Platz stehen wollte, war aber zu keinem Zeitpunkt gefährdet.

Ihnen schlug bei Ihrem Comeback viel Sympathie entgegen, auch von den Gegnern. Sie schreiben da von "Gänsehautmomenten". Hat Sie diese Anteilnahme überrascht?

Marco Russ: Man redet immer von "In den Farben getrennt, in der Sache vereint“" und das ist wirklich so. Durch die Fans hat man immer eine Rivalität, aber ich habe so viele Nachrichten von anderen Vereinen, von anderen Spielern, von Menschen bekommen, die anderen Vereinen zujubeln. Trotzdem war es dann sehr überraschend als ich beim Spiel in München eingewechselt wurde und das ganze Stadion gejubelt hat. Am Anfang war ich ein wenig irritiert, weil zeitgleich Jerôme Boateng eingewechselt wurde. Deshalb dachte ich, die Fans applaudieren ihm. Dann habe ich aber gemerkt, dass das mir galt. Das war auch eine Anerkennung für mich persönlich. Ein schöner Moment.

Zwei Jahre nach der Diagnose gewannen Sie dann sensationell mit der Eintracht den Pokal gegen Bayern. War das Ihr sportlicher Höhepunkt?

Marco Russ: Definitiv. Alle Fußballer spielen, um zu gewinnen und Titel zu erlangen. Der Pokalsieg war das absolute Highlight. Ich habe ja fast ausschließlich bei Eintracht Frankfurt gespielt und da gibt es nicht oft die Möglichkeit, um Titel mitzuspielen. Wir hatten das Jahr vorher schon die Möglichkeit, im Finale gegen Dortmund zu gewinnen, und haben da leider verloren. Unter Friedhelm Funkel 2006 waren wir gegen die Bayern im Pokalfinale schon einmal der Mega-Underdog und haben verloren. 2018 dann war das noch einmal eine Ecke härter. Die Bayern hatten unter Jupp Heynckes alles weggehauen, was auf dem Platz stand, und die Chancen für uns waren zu dem Zeitpunkt gering. Wenn Du dann den DFB-Pokal gegen diese Bayern gewinnst und dadurch für die Europa League qualifiziert bist, dann gibt es kein größeres Highlight.

Ihre Karriere haben Sie 2020 inmitten von Corona beendet. Sie hatten sich nach einer schweren Verletzung gerade so einigermaßen zurückgekämpft, dann kam der Lockdown, die Stadien waren leer. Ihre Motivation, noch einmal alles zu geben für das Comeback, war am Tiefpunkt. Erzählen Sie, wie das für Sie war.

Marco Russ: Die Motivation war schon noch da, und ich habe mich nach der Achillessehnen-Verletzung auch gequält, aber ich habe von meinem Körper her gemerkt, dass das keinen Sinn mehr macht. Quälen ist eh so eine Sache. Grundsätzlich war ich nie einer, der sich gerne gequält hat (lacht). Ich habe es gemacht, aber als ich dann gemerkt habe, dass mir jeden Morgen nach dem Aufwachen das Sprunggelenk schmerzt und ich erst einmal Minuten benötige, bis es geht und nicht mehr weh tut, ich jeden Tag zur Behandlung muss, damit das Gelenk frei ist, war das einfach zu viel. Ich habe immer gesagt, ich spiele so lange Fußball, wie es mir Spaß macht oder bis mein Körper nicht mehr mitmacht. Mental hätte ich noch gerne weitergespielt, aber ich bin dann auch Realist genug, um zu sehen, dass nun Schluss ist. Die anderen sind jünger, sind schneller, sind stärker, dann ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem es auch keinen Spaß mehr macht. Ich merke es heute auch, wenn ich mit meinen Analysten-Kumpels Fußballtennis spiele, dann tut mir der Knöchel am nächsten Tag auch wieder weh. Hochleistungssport hätte auf Dauer keinen Sinn mehr für mich gemacht.

Ihr letztes Spiel im Kader war im leeren Waldstadion gegen Paderborn. Den Abschied hätten Sie sich sicherlich anders vorgestellt. Nun gibt es wieder Zuschauer in den Stadien. Glauben Sie, dass Corona den Fußball verändert hat? Wie ist das bei Ihnen in Frankfurt? Sind die Fans wieder genauso heiß wie vorher?

Marco Russ: Ich glaube schon, dass die Fans heiß sind, aber ein Teil der Fanszene ist noch nicht im Stadion vertreten. Man hat das Gefühl, dass alles wieder voller wird und die Fans wieder Lust auf Fußball haben. Es hat ihnen einfach gefehlt und uns haben die Fans gefehlt. Jetzt hoffen wir natürlich alle, dass das peu a peu so weiter geht mit der Öffnung. Ohne Fans hatten die Spiele einen Bolzplatz-Charakter. Das war gefühlt so, als ob man im Trainingslager ist und gegen ein anderes Team ohne Zuschauer spielt. Das war nicht schön, aber es ging eben nicht anders zu dem Zeitpunkt.

Wie sieht Ihre Planung weiter aus, fühlen Sie sich als Analyst wohl oder geht es irgendwann vielleicht auch wieder zurück auf den Platz als Trainer oder Co-Trainer?

Marco Russ: Wer weiß, was in fünf, sechs, sieben oder acht Jahren ist. Aktuell kann ich es mir aber nicht vorstellen, Trainer zu sein. Mir macht mein aktueller Job sehr viel Spaß, wir haben ein tolles Team. Wir sind immer noch sehr nah an der Mannschaft, ich sehe die Jungs fast täglich. Ich bin auch in anderen Stadien, schaue mir da die Gegner an, das ist sehr interessant und füllt mich derzeit absolut aus.

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