Eine Reporterin deckt auf

True Crime-Doku "Victim/Suspect": Perfides Muster - Wenn Oper ihre Unschuld beweisen müssen

von Pamela Haridi
"Victim/ Suspect": Reporterin Rachel de Leon deckt in der Doku von Netflix ein erschreckendes Muster in US-Behörden auf.
"Victim/ Suspect": Reporterin Rachel de Leon deckt in der Doku von Netflix ein erschreckendes Muster in US-Behörden auf.   Fotoquelle: Netflix

Ab Dienstag, den 23.05.2023, präsentiert Netflix den Dokumentarfilm „Victim/Suspect“. Hauptdarstellerin ist die engagierte Reporterin Rachel de Leon, die sich für die Opfer von Sexualverbrechen einsetzt. Bei ihren Recherchen stößt sie auf ein perfides Muster: Überzufällig oft erfahren die Geschädigten nicht nur keine Gerechtigkeit, sondern werden obendrein von den Behörden kriminalisiert, beschuldigt und rechtskräftig verurteilt, während die Täter unbehelligt davonkommen.

"Victim/Suspect" – ein wahrer Albtraum

„Manchmal ist das Justizsystem nicht für jeden geeignet.“, so die Worte eines Vaters, der seiner Tochter dazu geraten hatte, sich an die Polizei zu wenden, nachdem sie Opfer eines Sexualverbrechens geworden war. Sein Resümee klingt resigniert. Es zeugt von Hilflosigkeit und Enttäuschung über das, was seine Tochter erleiden musste, nachdem sie seinen Rat befolgt hatte. Noch während ihrer detaillierten Aussage stellte der Polizist knapp und kalt fest, dass sie nicht glaubhaft sei: „Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Und das war erst der Anfang eines unfassbaren Albtraums.

Inhalt des Dokumentarfilms 

Die preisgekrönte Reporterin Rachel de Leon hat in vier Jahren über 160 Fälle untersucht. Alles begann im Jahr 2016 mit Recherchen zu einem Vorfall, bei dem eine 18-jährige Studentin der Sacred Heart University in Bridgeport von zwei College-Footballspielern während einer Party ins Badezimmer gezerrt und zu sexuellen Handlungen gezwungen worden war. Die traumatisierte Studentin nahm all ihren Mut zusammen und meldete den Übergriff der Polizei. Doch anstatt ihre Aussage zu protokollieren, unterstellte ihr der Beamte, dass sie die Unwahrheit sagen würde. Eine Falschaussage gilt in den USA als Straftat und wird mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr geahndet – es kommt zur kompletten Umkehr der Realität: Als Beschuldigte muss das Opfer nun seine Unschuld beweisen. Je tiefer Rachel de Leon in die Materie eindringt, umso deutlicher zeichnet sich die schockierende Gewissheit ab, dass sie es hier bei weitem nicht nur mit einem Einzelfall zu tun hat.

In dem Dokumentarfilm kommen exemplarisch drei Frauen zu Wort, die sexuelle Übergriffe erleiden mussten und von der Polizei nicht als Geschädigte anerkannt wurden. Viele Betroffene wurden nach ihrer Aussage verhaftet, angeklagt und wegen „Falschaussagen“ verurteilt. Neben der Demütigung und Traumatisierung wurden sie für die Anzeige der Übergriffe, denen sie schutzlos ausgeliefert waren, bestraft. Der Film zeigt, wie brutal und menschenverachtend manche Behörden sich gegenüber Opfern sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt positionieren. De Leon und ihr Team fanden bei einer Auswertung von 52 Fällen heraus, dass 15 der Gewaltopfer innerhalb von nur 24 Stunden nach der Anzeige der Übergriffe verhaftet wurden. Auf zahlreiche Aussagen erfolgte nicht einmal die Aufnahme von Ermittlungen, geschweige denn die Konfrontation der Beschuldigten mit dem Sachverhalt. Stattdessen wird man Zeuge der mit Lügen durchtränkten Vernehmungstechniken seitens der Polizei. Der Film thematisiert darüber hinaus den Einfluss der Medien, die mit ihrer an Quoten orientierten, oft einseitigen Berichterstattung die öffentliche Verleumdung der Geschädigten noch zusätzlich schüren.

Besonders nahe geht die Geschichte einer Studentin aus Alabama, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Auf der Suche nach einem adäquaten psychotherapeutischen Angebot gab sie an, „vergewaltigt und von der Polizei schikaniert worden zu sein“, was letztlich dazu führte, dass sie aufgrund massiven Drucks das College wechseln musste. In ihrer Verzweiflung nahm sie sich kurze Zeit später das Leben. Auch die eingangs genannte 18- jährige Studentin hielt dem gewaltigen Druck des Systems nicht stand und gestand fälschlicherweise, dass ihre Aussage gelogen gewesen sei. Sie wurde daraufhin zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

"Victim/Suspect" zeigt, was viele schon lange ahnen

Das neueste Werk von Regisseurin Nancy Schwartzman eröffnet einen ungeschönten, kompromisslosen Blick auf ein beklemmendes Thema, das viel zu wenig Öffentlichkeit erlangt. Dieser Dokumentarfilm ist tabu- und schonungslos entlarvend: Er richtet seinen Blick unbeirrt auf unbequeme Tatsachen, die so abscheulich sind, dass man als Zuschauer intuitiv lieber wegsehen würde, obwohl einem das Unbehagen schon lange merkwürdig vertraut vorkommt - das patriarchalisch geprägte Justizsystem der USA ist schließlich weit weg.

Ein rein amerikanisches Phänomen?

Wer mit wachem Verstand zusieht, kommt nicht umhin zu erkennen, dass wir hierzulande mit ähnlich gelagerten Problemen kämpfen: In schöner Regelmäßigkeit flammen öffentliche Diskussionen über Polizeigewalt auf, die sich an den schier unfassbaren Schicksalen bis dato unbescholtener Bürger entzünden. Das geflügelte Wort, dass „Recht haben“ noch lange nicht „Recht bekommen“ bedeutet, ist in aller Munde. Eine Rechtsprechung, die den – in seinem Kern nachvollziehbaren und sinnvollen - Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ leider allzu oft ad Absurdum führt, mahnt uns zu einer offenen, konstruktiven Auseinandersetzung mit den Schwachpunkten unseres Rechtssystems. Wie so oft kann ein wenig Empathie dabei helfen, den Blickwinkel zu verändern – wie mag es sich wohl anfühlen, wenn man sich nach existenziell bedrohlichen Erfahrungen von Hilflosigkeit, Willkür und Grenzüberschreitung hilfesuchend an die zuständigen Stellen wendet und von ebendiesen eine Fortsetzung der erlittenen Traumatisierung erfährt?

Fakten zum Film

„Victim/Suspect“ wurde von Motto Pictures, dem Center for Investigative Reporting Studios, Renaissance Pictures sowie Pacific Renaissance Pictures produziert. Regie führte Nancy Schwartzman. Mitwirkende sind unter anderem Rachel de Leon und Amanda Pike als sie selbst und Gabrielle Echols, Nell Fisher und Anna-Maree Thomas in der Rolle weiterer Opfer. Der ca. 90-minütige Film feierte am 31.01.2023 auf dem Sundance Festival seine Premiere. Ab dem 23.05.2023 erscheint er exklusiv auf Netflix.

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