Themenabend bei ARTE

"Glücklichsein um jeden Preis": Doku über modernes Glücks-Management

30.08.2022, 08.31 Uhr
von Eric Leimann

Kann man sich Optimismus antrainieren? Ja, sind viele überzeugt. Doch das moderne Glücks-Management hat auch Schattenseiten.

ARTE
Glücklichsein um jeden Preis
Dokumentation • 30.08.2022 • 20:15 Uhr

Das heutige Diktat zum Glücklichsein, ist schon etwas Fieses. Wer ihm nicht folgt, so heißt es in der ziemlich klugen und lehrreichen französischen Dokumentation "Glücklichsein um jeden Preis" (20.15 Uhr), ist gleich doppelt gestraft: Er oder sie macht sich zum Außenseiter und ist zudem noch schlecht drauf. Der 90 Minuten lange Dokumentarfilm von Jean-Christophe Ribot analysiert in toll montierten Bildern, wie die "Positive Psychologie" des amerikanischen Forschers Martin Seligman vor allem ab den 90ern unser Denken und Handeln veränderte, indem sie unseren Lifestyle, die Arbeitswelt und sogar die Politik mit ihren Themen besetzte. Im Anschluss zeigt um 21.40 Uhr "Instagram – Das toxische Netzwerk", was eine 2010 als kleines Foto-Sharing-Programm veröffentlichte und mittlerweile fast schon manisch Verwendung findende App über uns aussagt. Instagram prägt das Leben, standardisiert Geschmäcker und verändert den Bezug zur Realität, verdeutlicht der ebenfalls lange Doku-Film (87 Minuten) von Olivier Lemaire. Beide Dokus sind wie auch die beiden nachfolgenden Programme Teil des ARTE-Themenabends "Der moderne Mensch".

Um 23.10 Uhr widmet sich die Dokumentation "Unterm Radar" Wegen aus der digitalen Überwachung und um 0.05 Uhr zeigen die deutschen Dokumentaristen Luca Zug und Alexander Spöri in ihrem Film "Liken.Hassen.Töten", wie Jugendliche zu Attentäterinnen und Attentätern werden. Am konkretesten behandelt jedoch der Eröffnungsfilm des Abends die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns heute – vor allem in wohlhabenderen Ländern – fast schon manisch auf einer ständigen Suche nach Glück und Lebensoptimierung befinden und warum genau diese Fixierung uns oft unglücklich macht. Der fast 80-jährige US-Psychologe Martin Seligman, im Film immer wieder im Interview zu sehen, darf sich wohl die Feder an den Hut stecken, diesen Trend ausgelöst und mit seiner Forschung mit am meisten befördert zu haben.

Seligman fand unter anderem heraus, was optimistische Menschen von pessimistischen unterscheidet. Er stellte Probanden in Tests immer wieder Aufgaben, welche die Versuchspersonen überforderten. Trotzdem blieben ein Drittel der Menschen immer positiv, während zwei Drittel irgendwann resignierten. Nach Seligman glauben Pessimisten, dass jedes Unglück von Dauer ist, es zudem alle Lebensbereiche überschattet und dass es unkontrollierbar ist. Optimisten hingegen sind der Überzeugung, dass Unglücke vorübergehen, dass es daneben immer noch Positives gibt und dass man selbst etwas gegen das Unglück tun kann.

Optimismus wurde über Seligmans viel beachtete Forschung zu einer erlernbaren Eigenschaft, die außerdem prima zu Überzeugungen des "amerikanischen Traums" passt: Jeder ist seines Glückes eigener Schmied. Die Wissenschaft hat festgestellt: Man kann lernen, glücklicher und flexibler zu sein. Bataillone von Motivationstrainern und Life Coaches, von der Aufräumexpertin Marie Kondo bis zum Star der Persönlichkeitsentwicklung, Anthony "Tony" Robbins, begründeten ihre – oft sehr ähnlichen – Lehren auf Grunderkenntnissen der Positiven Psychologie, die sich vom alten defizitären Menschenbild der Psychoanalyse abgewendet hatte.

Im Hintergrund werden Daten gesammelt

Bald flossen die Erkenntnisse auch in die Personalabteilungen von Wirtschaftsunternehmen ein: Mit Testverfahren wie "CliftonStrengths 34" konnte jeder die eigenen Stärken feststellen. Glück wurde mehr und mehr zum anerkannten Forschungsgegenstand. Um positiv balanciert zu sein, braucht man ein Verhältnis von 3:1, also etwa dreimal so viele positive Emotionen wie negative, erzählt die deutsche Professorin für Positive Psychologie Judith Mangelsdorf im Film. Mit Apps wie Headspace, dem digitalen Happiness-Chartbreaker mit 70 Millionen Downloads, managen Menschen heute ihr Glück und die Firmen dahinter sammeln massenhaften Daten.

Doch irgendwann merkte man, dass es die Menschen nicht glücklicher machte, die eigenen inneren Talente zu stärken. Jeder vierte amerikanische Arbeitnehmer hatte bereits einen Burnout. Jeder sechste Amerikaner nimmt Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel, um glücklicher zu sein. Eine französische Forscherin bringt es im Film mit dem Satz auf den Punkt: "Positivität ist nur ein anderes Wort für Fügsamkeit und Disziplin. Das (gesellschaftliche) Ziel lautet, immer schwierigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren." Konservative Politiker wie der ehemalige britische Premier David Cameron oder der Franzose Nicolas Sarkozy übernahmen Instrumente der positiven Psychologie in ihre politische Agenda. Cameron, Premierminister von 2010 bis 2016, kombinierte beispielsweise drastische soziale Sparmaßnahmen mit Programmen für "positives Denken", die er Arbeitslosen verordnete.

Auch Sarkozy berief sich auf die Positive Psychologie, indem er bei seinen Landsleuten fortan mehr messen wollte, als nur das Bruttoinlandsprodukt: Auch die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger wurde für ihn ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Indikator für den Zustand des Landes. Dahinter stand ein "mitfühlender Konservativismus", wie es George W. Bush einmal formulierte. Für die neue Arbeitswelt heißt das: Individuen müssen vor allem handlungsfähig gemacht werden. Heute ist man folglich nicht mehr arbeitslos, sondern auf der Suche nach spannenden neuen Herausforderungen. Das kritische Hinterfragen der heutigen Glückssuche ist ein toller Themenabend bei ARTE, dessen Themen tatsächlich ins Schwarze treffen.

Glücklichsein um jeden Preis – Di. 30.08. – ARTE: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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