Netflix-Serie

"Narcos: Mexico": An der Keimzelle der Gewalt

von Jens Szameit

Man kann nicht sagen, diese Serie käme zu unpassender Zeit. "Mexiko ist ein einziger Friedhof", zitierte unlängst der "Deutschlandfunk" den Priester und Menschenrechtsverteidiger Oscar Enriquez aus der Drogenhochburg Ciudad Juárez. In den meisten Bundesstaaten gebe es Massengräber. Der Bedarf wächst stetig. 85 Menschen sterben oder verschwinden täglich als Folge des Drogenhandels. Mehr als 30.000 waren es vergangenes Jahr. 2018 stieg die Mordrate abermals, es könnte das blutigste Jahr in der Geschichte Mexikos werden.

"Ich kann Ihnen nicht sagen, wann der Drogenkrieg endet", kündet eingangs des Staffelauftakts von "Narcos: Mexico" eine Stimme aus dem Off. "Ich kann nicht mal sagen, ob er überhaupt endet. Aber ich kann Ihnen sagen, wie er begann." Sozusagen von der Keimzelle der Gewalt erzählt Netflix ab 16. November in zehn abermals aufwühlenden Serienfolgen.

Drei Staffeln lang setzte die Ausnahmeproduktion des amerikanischen Streaminganbieters Maßstäbe auf dem an (vermeintlichen) Vorzeigestücken nicht armen Serienmarkt. "Narcos" erzählte seit 2015 von Aufstieg und Fall der kolumbianischen Drogenkartelle Medellín und Cali, vom Wüten und Sterben des Pablo Escobar, von Gier, Korruption, Terror und dem Zerbröseln von Recht und Gesetz. 2016 entschied Netflix, statt einer vierten Staffel einen Serienableger in Mexiko auf den Weg zu bringen. Im September 2017 befand sich ein Produktionsmitarbeiter auf der Suche nach Drehorten nahe der Ortschaft Temascalapa. Er wurde in seinem Auto erschossen. Etwa zwei Prozent aller Morde in Mexiko werden aufgeklärt. Dieser bislang nicht.

Unter derartigen Bedingungen ist es beeindruckend, welch atemberaubender Produktionsstandard in kürzester Zeit realisiert wurde. "Narcos: Mexico" ist wie die "kolumbianische" Mutterserie großes Ausstattungskino in einer mitreißenden Mischung aus sacht fiktionalisierter Zeitgeschichte und dokumentarischen Einsprengseln. Gegenstand ist diesmal das tragische Schicksal des aus Kalifornien nach Guadalajara versetzten DEA-Agenten Enrique "Kiki" Camarena (Michael Peña). Sein 30-stündiges Folter-Martyrium löste 1985 eine diplomatische Krise zwischen den USA und dem südlichen Nachbarland aus.

Camarena, verheirateter Vater dreier Söhne, hatte Anfang der 80er-Jahre das Guadalajara-Kartell unter Führung Miguel Ángel Félix Gallardos infiltriert. Der legendäre Drogenbaron begegnet einem in Gestalt seines Darstellers Diego Luna als leiser, aber skrupelloser Mann mit visionärem Weitblick. "Euer Geschäft interessiert mich nicht. Ich baue ein Imperium auf", raunt der Ex-Polizist seinen Kompagnons Ernesto Fonseca "Don Neto" Carrillo (Joaquín Cosio) und Rafael Caro Quintero (Tenoch Huerta) zu, als die noch versuchen, in Sinaloa ein paar geheime Marihuana-Plantagen vor dem Niederbrennen durch die örtliche Polizei zu erretten. Doch die Polizei wechselt schon bald die Seiten.

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht kontrollierten Gallardo und seine Mitstreiter 70 Prozent des Opium- und Marihuanaanbaus in Nordmexiko. Vor allem der Kokainschmuggel in die USA war ein Milliardenreibach. Und all das gänzlich unbehelligt durch die mexikanischen Strafverfolgungsbehörden. Dann kam Kiki Camarena. Der Rest ist eine unrühmliche Geschichte der Eskalation, die noch heute jeden Tag fortgeschrieben wird.

Eine charismatische Wucht wie der von Wagner Moura gespielte Pablo Escobar ist der "Narcos"-Gallardo zugegeben nicht. Mag also sein, dass sich der Sog der Mutterserie beim nördlichen Ableger nicht für jeden Zuseher in Gänze entfaltet. Einer Fortsetzung der Drogensaga auf mexikanischem Blutboden sollte dennoch nicht viel im Wege stehen. Eine halbe Million Todesopfer in den letzten 30 Jahren sind ein starkes narratives Argument.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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