Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) ist der stolze Polizist eines friesischen Dorfs und spannt seinen Sohn Siggi (Levi Eisenblätter) in seine Arbeit ein.
"Bad Banks"-Regisseur machte aus Siegfried Lenz' Klassiker "Deutschstunde" einen sperrigen zwar, aber absolut sehenswerten Kinofilm üder die Frage nach der Schuld des Einzelnen in einem Unrechtsregime.

Deutschstunde

KINOSTART: 03.10.2019 • Drama • D (2018) • 125 MINUTEN
Lesermeinung
prisma-Redaktion
Produktionsdatum
2018
Produktionsland
D
Laufzeit
125 Minuten

Filmkritik

Wieviel Schuld trägt der Einzelne?
Von Andreas Fischer

"Bad Banks"-Regisseur Christian Schwochow hat sich an die Verfilmung von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" gewagt und aus dem Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur eine meisterliche und zeitgemäße Parabel über Anpassung und Widerstand, über Pflichtbewusstsein und blinden Gehorsam gemacht.

"Deutschstunde" nannte Siegfried Lenz seinen Roman, der, gleichwohl kontrovers diskutiert, als eine der bedeutendsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur gilt. Ein passender Titel, weil sich der Klassiker mit dem beschäftigt, was die Deutschen im Nationalsozialismus ausmachte. "Die Freude der Pflicht" führt Siggi aus den 1950er-Jahren zurück in seine Kindheit.

Der Polizist Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) verrichtet 1943 in dem norddeutschen Kaff Rugbüll seinen Dienst: Er ist besessen davon, seine Pflichten zu erfüllen und ordnet seinem Gehorsamkeitsstreben alles unter. Dass er Befehle ausführen muss, die Unrecht sind, hinterfragt er nicht. Er funktioniert einfach und opfert dafür auch seine alte Freundschaft mit dem Maler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti), einem mitfühlenden, liberalen Menschenfreund und Patenonkel von Jepsens Sohn Siggi (Levi Eisenblätter).

Die Jugendfreunde haben sich auseinandergelebt – und nun will Jepsen mit aller Macht einen Befehl aus Berlin ausführen: Die Nationalsozialisten haben beschlossen, dass Nansen Kunst "entartet" ist und den Maler mit einem Berufsverbot belegt. Um es zu überwachen, spannt der Polizist seinen Sohn ein: Siggi taumelt zwischen Gehorsamkeit seinem Vater gegenüber und der Zuneigung zum Maler, dessen Atelier immer schon ein Zufluchtsort für ihn gewesen ist. Ausgerechnet der Junge muss Stellung beziehen in einer Zeit und vor einem Vater, die gnadenlos sind.

Der junge Schauspieler Levi Eisenblätter ist als Siggi eine Offenbarung, der selbst die großartigen Ulrich Noethen und Tobias Moretti überstrahlt. Was der heute 13-Jährige aus seiner Figur macht, wie er zweifelt und sich nach Zuneigung sehnt, wie er hin- und hergerissen ist zwischen Anpassung und Widerstand, das ist schlicht atemberaubend. Siggi ist die meiste Zeit ein stummer Beobachter, Eisenblätter verleiht der Stille Gewicht.

"Deutschstunde" ist kein Film der vielen Worte, sondern ein Film der Beobachtungen und Entwicklungen. Christian Schwochow ("Bad Banks") lässt sich und dem Publikum Zeit, in die Atmosphäre einzutauchen und den Figuren dabei zuzusehen, wie sie zweifeln und sich in inneren Kämpfe verlieren. Nur am Ende wird Schwochow hektisch, nach der Auslassung einiger Jahre der Romanhandlung fragt man sich im Kino ratlos, was Siggi antreibt, die Bilder seines Freundes zu stehlen und zu vergraben. Er hat offensichtlich einen Schalter umgelegt, warum erfährt man nicht.

Schwochow inszenierte "Deutschstunde" mit einer Gelassenheit, die selten geworden ist im Kino und speziell bei Verfilmungen literarischer Klassiker. Statt visuellem Pathos und Ausstattungswucher gibt es mehrdeutige Bilder, die aus der Weite der friesischen Küstenlandschaft eine bedrückende Enge destillieren, in der die Protagonisten gefangen sind. Alles ist hier etwas düsterer und leerer, viele Wege scheinen aus dem Nichts zu kommen und wieder dorthin zurückzuführen.

Dass der Film im Dritten Reich spielt, ist im Prinzip nur eine Randnotiz. Der Ort ist der Welt entrückt, ihre Mechanismen greifen dort trotzdem. Darum ging es Lenz schon in seinem Roman, und darum geht es Schwochow jetzt noch viel mehr im Film: um das individuelle Verhalten in einer gleichgeschalteten Unrechtsgesellschaft. Wie macht sich ein einzelner Mensch schuldig, wenn um ihn herum kollektive Verbrechen begangen werden?

Der Polizist muss nicht einmal ein überzeugter Parteigänger sein, um die Befehle der Nationalsozialisten ausführen. Jens Ole Jepsen hat einfach Freude an der Pflicht, Jens Ole Jepsen folgt allzu gerne den Befehlen der Obrigkeit, Jens Ole Jepsen hinterfragt nichts und führt alles aus. Er ist ein Handlanger und ein Mitläufer, ein Bückling, der alles schluckt, was ihm vorgesetzt wird. Seine Überzeugungen sind nicht politischer Natur, sondern moralischer, was ihm zum personifizierten Imperativ macht. Jepsen ist überzeugt davon, dass sein Weg der einzig richtige ist.

Gerade deshalb ist "Deutschstunde" 50 Jahre, nachdem der Roman erschien, und 75 Jahre nach den geschilderten Ereignissen aktuell. Regisseur Schwochow und seine Mutter Heide Schwochow, die das Drehbuch schrieb, haben den Stoff des 600-Seiten-Romans knallhart verdichtet. Was sie herausfiltern, ist eine zeitlose Essenz, in der es auch und gerade ums Jetzt geht: Dass sich Geschichte wiederholen kann, ist ein ausgesprochen ungutes Gefühl. Nicht nur im Kino.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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