EM-Kolumne

Hat Scholl recht?

04.07.2016, 13.46 Uhr
ARD-Experte Mehmet Scholl hat Bundestrainer Joachim Löw für seine Mannschaftsaufstellung gegen Italien kritisiert.
BILDERGALERIE
ARD-Experte Mehmet Scholl hat Bundestrainer Joachim Löw für seine Mannschaftsaufstellung gegen Italien kritisiert.  Fotoquelle: WDR/Paul Ripke / Tomasz Bidermann / Shutterstock.com

Fußball wird zum Drama, wenn viele Fehler passieren. Und am Ende gewinnt, wer beim Russischen Roulette das nötige Glück hat.

Von Detlef Hartlap

Das älteste und haltbarste, weil beste Prinzip des Fußballs lautet: Safety first. Sicherheit zuerst. Oder in einer neueren Variante: "Die Null muss stehen" (Huub Stevens).

Der Primat des Verteidigens durchzieht die Fußballgeschichte als positives Element mit der einen oder anderen Auswuchtung zur Obsession hin, was etwa bei der torärmsten Weltmeisterschaft 1962 in Chile oder im Catenaccio Inter Mailands in den Sechzigerjahren seinen Ausdruck fand. 

Der Rückschluss aus dieser Philosophie des Tore-Vermeidens lautet: Egal, wie genial und schussgewaltig die Stürmer sind, egal, wie ausgeklügelt die Angriffspläne eines Trainers angelegt werden, am Ende ist jedes Tor einzig und allein auf einen Fehler der verteidigenden Mannschaft zurückzuführen.

Mehr noch: alle glorreiche Dramatik entsteht nur dann, wenn die Verteidiger zu langsam (alternativ: zu schlecht organisiert; zu blöd) sind, den angreifenden Stürmern am Tore schießen zu hindern. Am Samstag, beim Spiel Deutschland gegen Italien, bekamen wir Anschauungsunterricht.    

Die Begegnung plätscherte, wenn auch auf leicht höherem Niveau, ähnlich zäh vor sich hin wie das Spiel der Portugiesen gegen Polen, das bekanntlich auch erst im Elfmeterschießen entschieden wurde. Deutsche und Italiener neutralisierten sich bis zur Ermüdung. Der Unterschied zu einem Gähner wie Portugal-Polen ist nur der: Man hofft stets, Deutschland könnte sich doch noch aus seiner taktischen Fesselung befreien, und man fürchtet, den Italienern würde in einem ihrer perfekten Ausfallmanöver das Tor gelingen, auf das sie spekulieren.

Aber dann dauerte es bis zur Mitte der zweiten Hälfte, ehe der bis dahin untadeligen italienischen Abwehr ein (einziger!) Fehler unterlief, indem sie ein Zusammenspiel von Gomez und Hector untypisch spät durchschaute und so Özil das 1:0 ermöglichte.

Dabei hätte es bis zum Ende aller Zeit, welche beim Fußball der Schlusspfiff markiert, bleiben können, wenn nicht ein zweiter Fehler passiert wäre: Jerôme Boateng hüpfte bei einem Freistoß der Italiener wie eine verzückte Ballerina (oder wie ein trunkener Hampelmann) mit himmelwärts ausgestreckten Armen durch den Strafraum, welche prompt vom Ball touchiert wurden. Elfmeter, 1:1.

Tore fallen, wenn jemand einen Fehler macht.

Alles, was dieses Spiel über einen Erz-Langweiler mit fußballerischer Minimalkost hinaushob, war Boatengs Missgeschick. Nur so konnte es zum Drama des Shoot-out vom Elfmeterpunkt kommen, das in mancher Hinsicht das Europapokalfinale der Landesmeister von 1988 übertraf. Damals konnten sich Benfica Lissabon und der PSV Eindhoven auch nach Verlängerung auf keinen Sieger einigen, und im Elfmeterschießen stand es bald 5:5. Jeder Schuss ein Treffer. Es ging weiter. 6:5 gegen Eindhoven. Und endlich parierte Van Breukelen gegen den Portugiesen Veloso.

Ob das Finale damals eine große nachträgliche Debatte auslöste? Kaum. Es ist in Vergessenheit geraten. Aber Deutschland-Italien befindet sich ungeachtet des glücklichen Ausgangs für die deutsche Mannschaft immer noch in der Nachspielzeit. Dafür sorgte ARD-Co-Kommentator Mehmet Scholl, der die Frage aufwarf, warum man "eine Mannschaft, die so funktioniert, in so eine Situation" bringe.

Gemeint war die Umstellung des deutschen Teams von einer harmonierenden und vielseitigen Einheit mit offensiver Grundausrichtung zu einer Torvermeidungstruppe mit fünf Abwehrspielern, von denen immerhin zwei, Kimmich und Hector, auch stürmen durften, wenn sie nicht gerade hinten der zweifellos übermächtigen italienischen Angriffspower standhalten mussten.

Scholl war schon als Spieler alles andere als ein Trainer-Kuscher. Über Otto Rehhagel als Bayern-Trainer lästerte er: "Wir spielen schon seit acht Wochen und haben immer noch keine Taktik." 

Diesmal aber nahm er sich gegenüber Jogi Löw selbst am Schlafittchen und verlagerte seine Kritik auf den Taktik-Berater der deutschen Mannschaft, Urs Siegenthaler: "Der kann morgens ruhig im Bett bleiben ..."

Fußball ist Ergebnissache. Nach einem Sieg war immer alles richtig, was der Trainer angestellt hat, mag es auch nur das Glück gewesen sein, das auf seiner Seite stand. Entsprechend ist im Falle einer Niederlage immer alles falsch.

Bemerkenswert an Scholls Kritik ist nun, dass sie einem Sieg folgte, auch wenn es sich um ein Russisches Roulette namens Elfmeterschießen handelte.

Hat Scholl recht?

Scholl hat recht, weil der Faktor Übervorsicht (nennen wir ihn "Schiss"), wie er in diesem Fall ganz offensichtlich von Bundestrainer Löw in den Vordergrund gestellt wurde, der eigenen Mannschaft signalisiert: Jungs, da kommt ein ganz dicker Dampfer auf euch zu! Erstens ist es die Aufgabe eines Trainers, das Gegenteil zu vermitteln, nämlich ein Höchstmaß an Selbstvertrauen, zweitens ist Italien in seiner derzeitigen Verfassung alles andere als übermächtig. Schiss ist ein schlechter Ratgeber.

Scholl hat recht, weil die Mannschaft durch den Einbau eines Verteidigers für einen Stürmer aus dem Gleichgewicht gehoben wurde, wovon sie sich bis zum Führungstor nicht erholte. 

Scholl hat recht, weil die Löwsche Maßnahme der Absicherung Kimmichs durch Höwedes nicht zufriedenstellend funktionierte. Joshua Kimmich unterliefen, überaufgeregt wie er war, mehrere Fehler, die bei konsequenterer Ausnutzung durch die Italiener böse Folgen hätten haben können und die durch seinen defensiven Doppler Höwedes keineswegs ausgebügelt wurden.

Vermutlich hätte ein schlichtes Ersetzen Kimmichs durch Höwedes ausgereicht. Aber das ist Spekulation. Ebenso wie es Spekulation ist zu vermuten, dass der durchaus populistisch gesonnene Herr Löw es nicht übers Herz brachte, den in zwei Spielen immens beliebt gewordenen Kimmich draußen zu lassen. Lieber zettelte er eine reichlich verschwurbelte Konstruktion mit einem offensiven und einem defensiven rechten Verteidiger an, die nie wirklich funktionierte. Auch in dieser Hinsicht hat Mehmet Scholl recht.

Nicht ganz so richtig liegt er mit seinem Ausfall gegen Urs Siegenthaler. Der Einfluss des Beraters wird, ob nützlich oder nicht, in den frühen Löw-Jahren mittelprächtig bis groß gewesen sein, heute ist er gering. Siegenthaler (68) darf morgens getrost ausschlafen, Löw hindert ihn nicht daran. Fußball mag zusehends verkopfen und verwissenschaftlichen, letztendlich trifft der Cheftrainer, also Joachim Löw, seine Entscheidungen aus dem Bauch.

Bauchentscheidungen sollten zwei Kriterien genügen: Sie müssen gut begründbar sein und erfolgreich. Seine Aufstellung gegen Italien war gewiss begründbar, aber von Angst unterlaufen. Angst vor einem Gegner, gegen den er schon zu oft, zuletzt 2014, falsche Entscheidungen getroffen hatte.

Deutschland-Italien, das war über lange Zeit ein ätzendes Safety-first-Spiel. Wie gut, dass den Abwehrrecken dann doch noch zwei Fehler passiert sind. Und Löws Erfolg lag nicht in seiner Taktik begründet, sondern blieb dem Ausgang einer Runde Russischen Roulettes vorbehalten.

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