Biologin Lydia Möcklinghoff im Interview

"Die großen Ameisenbären leben in ihrem eigenen Paralleluniversum"

29.10.2021, 08.58 Uhr
von Felix Förster

Die Biologin Lydia Möcklinghoff lebt die Hälfte des Jahres in Brasiliens Pantanal auf einer Ranch mit Cowboys und erforscht hier die Tier- und Pflanzenwelt. Zu Pferd und mit der Machete bewaffnet, durchdringt sie eines der größten Feuchtgebiete der Erde und begegnet Pumas, Jaguaren und dem Großen Ameisenbären. Die überzeugte Artenschützerin erforscht wie keine andere die Ameisenbären und hat hierzu bereits Filme gedreht und Bücher geschrieben.

Am Mittwoch, 3. November, ist sie im NDR ab 20.15 Uhr in der Reihe "Expeditionen ins Tierreich" zu sehen. Im Film "Unter Raubkatzen und Ameisenbären" wird sie von einem Filmteam bei ihrer Forschungsarbeit begleitet. prisma hat sich mit ihr unterhalten.

Warum sind Sie Verhaltensbiologin geworden?

Lydia Möcklinghoff: Ich wollte früher Tierfilmerin werden und habe dann auch ein paar Jahre in Filmfirmen als Praktikantin gearbeitet. Da habe ich erkannt, dass mich mehr interessiert, was das Tier eigentlich macht als wie es aufgenommen wird. Deswegen habe ich mich entschieden, in Gießen Biologie zu studieren und nach dem Grundstudium in Würzburg Tropen-Ökologie, wegen meiner Faszination für die Tropen. Dazu kam dann noch Verhaltensbiologie.

Die Tierwelt ist groß, wieso haben Sie sich gerade auf den Ameisenbären spezialisiert?

Lydia Möcklinghoff: Dass es der Ameisenbär wurde, war tatsächlich ein "Unfall". Als ich mit dem Studium in Würzburg anfing, bin ich in keinen Kurs gekommen, weil alles überfüllt war. Da sah ich auf einmal einen Aushang am Schwarzen Brett: "Wer kann sofort nach Brasilien fliegen?" Es ging dabei um Ameisenbären. Ich hatte noch nie Ameisenbären gesehen, war noch nie in Südamerika und hatte nichts Besseres zu tun, von daher wollte ich das machen. Und tatsächlich fand sich damals auch kein anderer Kandidat, und eine Woche später stand ich dann vor meinem ersten Großen Ameisenbären. Das war dann eine Mama mit Baby, da war es um mich geschehen. Und dann bin ich am Ameisenbären kleben geblieben. Das Faszinierende daran: Das sind total charismatische Tiere und man kann sie gut beobachten, aber sie sind bis heute kaum erforscht.

Was fasziniert Sie an diesen Tieren?

Lydia Möcklinghoff: Für mich sind die Großen Ameisenbären sehr schöne und besondere Tiere, über die es überhaupt keine Langzeitstudien gibt, die länger als ein Jahr gehen. Der Fokus meiner Arbeit setzt genau da an. Ich forsche seit elf Jahren an der immer gleichen Stelle, um auch ganz profane Sachen herauszufinden: Wie alt werden die Ameisenbären eigentlich in freier Wildbahn? Das weiß man nämlich bis heute nicht. Oder wie oft bekommen sie Jungtiere? Das sind alles wichtige Daten, um Ameisenbären schützen zu können. Sie stehen auf der Liste der bedrohten Tierarten und sind in Teilen ihres Verbreitungsgebietes, zum Beispiel in Uruguay oder in Teilen Zentralamerikas, bereits ausgestorben.

Haben die Tiere besondere Verhaltensweisen?

Lydia Möcklinghoff: Wenn man sie sieht, dann fällt auf, dass sie einen oft nicht sehen, und das ist eine weitere faszinierende Sache an den Großen Ameisenbären: Sie leben in ihrem eigenen Paralleluniversum, denn sie sehen und hören nur schlecht und können sich nur auf eine Sache konzentrieren. Und wenn sie sich auf das Fressen konzentrieren, dann bekommen sie oft nicht mit, dass man gerade da ist. So kommt man den Tieren ganz nahe. Faszinierend ist auch, dass der Ameisenbär heute noch lebt und trotz seiner Defizite nicht einfach ausgestorben ist. Tatsächlich gibt es Große Ameisenbären seit 57 Millionen Jahren. Das sind ganz alte Tiere, die so typisch sind für Süd- und Mittelamerika, verwandt mit den Faul- und Gürteltieren. So alte Säugetiere sind noch auf unserer Erde unterwegs!

Was erwartet die Zuschauer bei Ihrem Film "Unter Raubkatzen und Ameisenbären"?

Lydia Möcklinghoff: Für den Film hat mich ein Kamerateam über lange Zeit bei meiner Arbeit begleitet. Es hat sich mit mir durch die Büsche geschlagen und mich beobachtet, wie ich Kamerafallen aufstelle. Die Filmer sind mit mir auf Pferden durch das Pantanal geritten. Das ist das große Feuchtgebiet in Brasilien, in dem ich seit elf Jahren arbeite. Mir war es eine große Freude, mit dem Team dort unterwegs zu sein und ihm diese Landschaft, die ich so sehr liebe und die schon längst meine zweite Heimat ist, zeigen zu können. Wir sind natürlich dem Große Ameisenbären begegnet, aber auch ganz vielen anderen Tieren. Das war das erste Filmteam, das so viel Zeit mitgebracht hatte, und das hat sich wirklich ausgezahlt, denn wir hatten tolle Begegnungen, unter anderem mit einem Jaguar. Da war selbst ich sehr aufgeregt, weil ich der Katze wirklich sehr nahegekommen bin (lacht).

Wie funktioniert das mit den Kamerafallen?

Lydia Möcklinghoff: Ich benutze sie, um Tiere zu beobachten, die scheu sind. Kamerafallen lösen automatisch aus, wenn sie Körperwärme und Bewegung registrieren. Also eigentlich bei jedem Tier, das vorbeikommt. Dadurch sehe ich auch Tiere, die man sehr schwierig beobachten und filmen kann.

Ameisenbären können ja, wie Sie schon gesagt haben, gut beobachtet und gefilmt werden, wenn man sie erst einmal gefunden hat. Wie schwierig ist das?

Lydia Möcklinghoff: Der Ameisenbär selbst ist nicht das schwierigste Tier zum Filmen. Man findet ihn schon, man kommt auch relativ nah an ihn heran, aber wir hatten auch sehr großes Glück. Denn oft ist es einfach so: Ein Kamerateam kommt an und man findet keine Tiere. Murphy's Law! Die verstecken sich dann im Wald. Diesmal war das anders, und wir haben unglaubliche Beobachtungen auf Film, vom Ameisenbären, aber auch vom Baumstachler, einer Nagetierart, die sehr selten ist, und die ich vorher nur einmal gesehen habe. Und dann saßen da auf einmal zwei Tiere im Baum. Wir haben auch den Baum-Ameisenbären beobachten können. Und wir hatten vor allem die beste Puma-Sichtung meines Lebens. Ich will nicht zu viel spoilern, aber das war eine unglaubliche Sichtung...

Sie können die Ameisenbären sogar einzeln auseinanderhalten, welche Merkmale sind da entscheidend?

Lydia Möcklinghoff: Man hat immer gedacht, alle Ameisenbären sehen gleich aus, und das ist ein Problem, wenn man Verhaltensforschung macht und wissen möchte, wie die Streifgebiete der Tiere über die Jahre hinweg aussehen. Da muss man natürlich wissen, wer ist wer, wer lebt wo und wer bewegt sich wo. Oder wenn man das Alter der Tiere herausfinden möchte, dann muss man sie ja wiedererkennen. Und ich konnte zeigen, dass man die Tiere entgegen der allgemeinen Meinung anhand ihrer Fellzeichnung unterscheiden kann. Und dabei gibt es wichtige Merkmale: Das Tier ist ja hauptsächlich dunkelbraun bis grau und hat eine schwarze dreieckige Flagge über der Schulter, die von weißen Streifen eingerahmt ist. Diese Streifen sind manchmal sehr breit und auffällig, manchmal sehr schmal. Dann hat der Ameisenbär ein weißes Vorderbein und darauf sind manchmal schwarze Flecken, manchmal nur Schatten. Manchmal ist das Bein ganz weiß und dann hat das Tier ein schwarzes Armband. All dies ist sehr unterschiedlich. Das Zusammenspiel der verschiedenen Charaktere der Fellzeichnung ermöglicht dann die individuelle Unterscheidung. Aber es ist nicht so einfach wie beim Jaguar, der ganz eigene Tupfen hat, an dem man ihn unterscheiden kann, oder Netzgiraffen, wo es sogar Computerprogramme gibt, mit denen man die Tiere automatisch auseinanderhalten kann. Beim Ameisenbär ist das Handarbeit, und die ist ziemlich aufwendig, aber es geht.

Leben im Pantanal in Brasilien, wo Sie für die Sendung gedreht haben, auch Menschen? Wie kann man sich das Gebiet vorstellen?

Lydia Möcklinghoff: Im Pantanal leben Menschen, und das südliche Pantanal ist zu 98 Prozent in Privatbesitz. Das sind alles Rinderfarmen und das stellt man sich bei uns dann als intensive Landwirtschaft vor. Das ist dort in weiten Teilen aber nicht so. Es gibt Farmen, die sind bis zu 600 Quadratmeter groß, riesige Areale, und da gibt es nicht viele Rinder. Und die Menschen leben seit Jahrhunderten von dieser traditionellen Rinderzucht, sie ist mittlerweile in diesem Ökosystem ein wichtiger Faktor, auch für die Wildtiere. Denn die Rinder halten einige Flächen frei, das sind dann Savannenflächen, auf denen Pampashirsche leben, die sonst im dichten Wald gar nicht überleben könnten. Die Menschen leben dort im Einklang mit der Natur und es ist ein gutes Beispiel, wie das funktionieren kann. Das wurde auch von der UNESCO ausgezeichnet: als Weltnaturerbe und Biosphären-Reservat, als Landschaft, in der Mensch und Tier erfolgreich miteinander und nebeneinander leben. Und diese uralte Form der Rinderzucht ist nachhaltig, da werden nur die natürlichen Schwemmflächen genutzt, es wird nur in sehr geringem Maße extra abgeholzt und dies ist sehr verträglich.

Gibt es denn trotzdem Probleme für das Pantanal?

Lydia Möcklinghoff: Ja, leider ändert sich dieses Miteinander, wenn es Richtung Stadt geht. Da gibt es sehr viele abgeholzte Flächen, wodurch Grasland für eine intensive Rinderzucht entstanden ist. Da verschwindet das Pantanal. Es gibt dort auch Holzkohlefirmen, die den Farmern anbieten: Wir machen euch eine große Fläche frei für eure Rinder und wir bekommen dann alle Hölzer, um Kohle zu produzieren. Das ist ein Deal, der das Pantanal von den Rändern aus sehr bedroht. In anderen Regionen gibt es auch Probleme durch den Bau von Staudämmen oder durch große Feuer, deren Ursprung sehr komplex ist. Also gibt es Bedrohungen, aber eigentlich leben gerade im Inneren des Pantanals Mensch und Tier sehr friedlich zusammen. Man muss sich vergegenwärtigen: Das Pantanal ist so groß wie Großbritannien. Ein riesiges Gebiet mit einer beeindruckenden Natur, wo einfach die Hyazinth-Aras, die überall vom Aussterben bedroht sind, in riesigen Schwärmen vorkommen. Das sieht man dann auch im Film.

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