EM-Kolumne, 4. Folge

Heul doch, Cristiano!

24.06.2016, 09.55 Uhr
Beschwert sich häufig beim Schiedsrichter über den Einsatz des Gegners: Cristiano Ronaldo.
BILDERGALERIE
Beschwert sich häufig beim Schiedsrichter über den Einsatz des Gegners: Cristiano Ronaldo.  Fotoquelle: Marco Iacobucci EPP / Shutterstock.com

Auch schlechter Fußball kann helle Freude auslösen, besonders wenn die sogenannten Kleinen damit so viel Erfolg haben wie in Frankreich.

Von Detlef Hartlap

Es gibt im Fußball keine Kleinen mehr – das war die Quintessenz von Rudi Völlers berühmter Wutrede vom September 2003. Im Verlaufe einer längeren Suada, die von seinem Interviewer Waldemar Hartmann nicht oder nur unzureichend moderiert wurde, schaukelte sich Völler zu Ausdrücken wie "Scheißdreck", "Mist" und "Käse" hoch sowie zu der Erkenntnis, dass man im Fußball immer und überall mit einer Niederlage rechnen müsse.

Zuvor hatte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in einem, nun ja, mäßigen Länderspiel unter der Regie von Teamchef Völler ein 0:0 abgeliefert. Der Live-Reporter Gerhard Delling sah in beidem, Spiel wie Ergebnis, "einen Tiefpunkt". Der Gegner Deutschlands damals hieß übrigens Island.

Das Salz in der Minestrone

Bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich sind die Kleinen das Salz in der Minestrone. Ohne Wales, Nordirland, Ungarn und vor allem ohne die Isländer wäre die Vorrunde von fadem Geschmack gewesen. Was nun nicht heißt, dass eine von diesen Mannschaften über seine Möglichkeiten hinaus gut gespielt hätte, im Gegenteil, sie waren in vielen Situationen abenteuerlich schlecht.

Beispiel Ungarn. Dreimal feierten sie gegen Portugal einen zufälligen Vorsprung, bei dessen Zustandekommen jeweils lusitanische Nonchalance und ziemlich viel Glück zusammentrafen. Was machten die Ungarn? Statt sich mit Mann und Maus der Verteidigung zu widmen, ließen sie sich von ihren Fans abbusseln und trabten, als würde Portugal fortan im Fado versinken, wie siegreiche Veteranen in die eigene Hälfte zurück. Gemäß Stadionuhr waren aber noch 30 Minuten zu spielen.

Folge, Cristiano Ronaldo erzielte das 2:2, als die ungarische Abwehr noch mit Feiern beschäftigt war und fern des eigenen Strafraums weilte; beim 3:3 konnte Ronaldo gegenspielerfrei einköpfen. Und wenn die Portugiesen nicht gegen Ende mit dem Fußballspielen aufgehört hätten, wäre ihnen ein Sieg durchaus möglich gewesen.   

Beispiel Island. Die vielgelobten Nordmänner haben von ihren zwei Trainern (Heimir Hallgrímsson, ein Zahnarzt, und Lars Lagerbäck, ein schwedischer Fußball-Professor mit unerschütterlichem Sitzfleisch) ein klares Defensiv-Konzept mit auf den Weg bekommen. Es lautet: neun Mann hinten, die gegnerischen Außenstürmer werden jeweils doppelt abgeblockt.

Man kann davon halten, was man will, aber ein Hinweis auf Rudi Gutendorf sei erlaubt. Als er 1963 mit dem Meidericher SV Vizemeister wurde, nannte man ihn und ob seiner gnadenlosen Defensiv-Taktik "Riegel-Rudi". Dabei ließ er moderner, pfiffiger, konterstärker spielen als Isländer und Ungarn zusammen und hatte zudem einige Spieler in seiner Mannschaft, die wirklich was konnten.

Die Isländer haben auch ein klares Offensiv-Konzept mit auf den Weg bekommen. Es lautet: sehr weiter Einwurf, Kopfball und dann der liebe Gott. Manchmal klappt das.

Bei einigen Spielern von Wales, Nordirland und Irland spürt man die profunde Rugby-Grundausbildung, die jeder von ihnen in der zweistündigen Mittagspause auf dem Schulrasen erfährt und zarter besaitete Fußballer vom Kontinent verzagen lässt.

Erinnern wir uns an Jack Charlton, den baumlangen Weltmeister von 1966, der später die Iren trainierte und mit der Devise "fight them down" zu manchem Erfolg führte. So auch bei der EM 1988 in Deutschland, als die Iren wie heute Island vorgingen: Frühes Kopfballtor und dann 80 Minuten verteidigen. Nicht mit schmutzigen Fouls, aber doch so, dass kein Engländer ohne Pferdekuss und einer Sammlung blaugrün gefärbter Hautstellen, auch im Gesicht, vom Platz ging. Es blieb beim 1:0 für Irland.

Der Fußball trägt weibische Züge

Einige Jahre später, als der Fußball neue Regeln bekam und manche Grätsche, auch die von hinten, aus dem Spiel verbannt wurde, warf Jack Charlton das Handtuch. Dieses Spiel, sagte er, sei nicht mehr seins, sondern habe sich in einen Mädchensport verwandelt.

Den Fußball-Romantikern von "11 Freunde" und den Erbsenzählern vom "Kicker" wird das niemals aufgehen, aber Jack Charlton hatte recht. Der Fußball trägt, und das nicht erst seit 2016, zusehends weibische Züge.

Häufiger als eine bauchbare Flanke schlagen die Spieler beide Hände vors Gesicht -  eine Frauenpose. Zu beobachten bei jeder vergebenen 3-Prozent-Chance. Als ob das Schicksal auf gemeine Art zugeschlagen hätte, wird das Gesicht abgedeckt. Gleich muss Mutti weinen. Nur dass Mutti einer von diesen millionenfach angehimmelten Fußballstars ist. Cristiano Ronaldo, und darin ist er nicht allein, zieht nach jeder Feindberührung ein Gesicht, als bräuchte er jetzt dringend ein Tempo.

Die Kleinen und ihr schwaches, aber doch erfolgreiches Spiel, das ist der grundlegende positive Widerspruch in diesem Turnier. Er wäre ohne tatkräftige Komplizenschaft einiger vermeintlich Großer (England, Italien und immer wieder Portugal) nicht möglich. Doch steckt in diesem Widerspruch das belebende Element in einem Übermaß an Fußball, der andernfalls in Tor-Armut und Langeweile eingeschlafen wäre.

Es waren und sind die Kleinen, deren Fans die EM zum Fest machen. Sie kommen a) zu Abertausenden ins Stadion (Island), singen b) so wunderschöne Lieder (Wales, Irland, Nordirland), dass man deutschen Fan-Beauftragten zurufen möchte: Jungs, schreibt das auf, macht das in der Bundesliga nach, kopiert ohne Rücksicht auf Urheberrechte!

Und mehr noch als alles andere bilden diese Fans einen großartigen Kontrast zu den Szenen der Barbarei russischer und kroatischer Fans.

Feinstes Roter-Teppich-Fernsehen

Als Deutschland sich 2003 mit einem 0:0 gegen Island begnügen musste, hatte es Rudi Völler besonders auf Gerhard Delling abgesehen: "Delling", schimpfte er, "das ist eine Sauerei, was der sagt."

Delling sagt heut lieber nichts mehr. Jedenfalls nichts von Belang. Seinen Auftritten beim Eintreffen des deutschen Mannschaftsbusses vor dem Spiel, wohnt allerdings Kult-Potenzial inne. Delling verkündet dann, in einer Mischung aus Portier und Hofschranze, dass die Mannschaft jetzt eintreffe, was ohnehin jeder sieht.

Es handelt sich um feinstes Roter-Teppich-Fernsehen, nur dass nicht die Queen kommt, sondern Jogi Löw, kofferlos und mit leerem Blick an der Kamera vorbei; danach sein Gehilfe Thomas Schneider, ebenfalls mit leeren Blick, aber mit Koffern; danach die Spieler einer nach dem anderen mit leerem Blick und Kopfhörern auf den Ohren. Delling zählt dann sicherheitshalber und gedämpften Tons die Namen auf, die vielleicht nicht jedem geläufig sind.

Nein, es gibt keine kleinen Gegner mehr, und Tiefpunkte werden schon lange nicht mehr Tiefpunkte genannt. Am Sonntag, wenn es im Achtelfinale gegen die Slowakei geht, müssen wir auf Gerhard Delling verzichten. Schade. Das ZDF überträgt.

Das könnte Sie auch interessieren