04.07.2017 Literatur

Ein Roman wie ein Historiengemälde

Von Florian Blaschke
Arbeitet sich an der Natur ab: Autorin und Pulitzer-Preis-Trägerin Annie Proulx.
Arbeitet sich an der Natur ab: Autorin und Pulitzer-Preis-Trägerin Annie Proulx. Fotoquelle: Fairfax Media/Getty

300 Jahre Familien- und Menschheitsgeschichte: Mit "Aus hartem Holz" legt Annie Proulx ein monumentales Werk vor.

Im Jahr 1693, die wenigsten werden sich erinnern, ist die Welt noch ein gerüttelt Maß größer als heute. Abgesehen von Antarktika sind zwar alle Kontinente entdeckt und von europäischer Seite mit Kolonien und Interessen belegt, doch blinde Flecken gibt es immer noch mehr als genug: Inseln, Wälder, Bergregionen, die Neuland sind – ein Begriff, der damals noch etwas Geheimnisvolles, Gefährliches in sich trägt.

Einer dieser blinden Flecken: La Nouvelle-France, heutiges Kanada, ein Gebiet, das von Neufundland zu den Großen Seen und von der Hudson Bay bis zum Golf von Mexiko reicht. Diese Gegend betreten, im Zwielicht eines Tages eben dieses Jahres, zwei Männer. Ihr erster Eindruck: Schlamm, Regen, Insektenstiche und der Geruch von Weiden.

Die Ausbeutung der Wälder

Diese beiden sind René Sel und Charles Duquet, Franzosen, Holzarbeiter – und auf der Suche nach dem Glück, wie so viele in diesen Tagen und Jahren der Kolonialisierung. Doch sie sind nicht die ersten in Neufrankreich, schon haben sich Landbesitzer hier breitgemacht und begonnen, den Wald und die Berge zu roden und auszubeuten, doch auch sie waren nicht die Ersten. Vor ihnen waren schon die Mi’kmaq hier, die Irokesen ebenso und auch die Algonkin oder die Ottawa.

Zwischen alledem wirken Sel und Duquet ein wenig verloren, doch sie gehen ihren Weg. Sel als Arbeiter für Monsieur Trépagny, einen großspurigen, unangenehmen Zeitgenossen, der es zu einem gewissen Reichtum als Waldbesitzer gebracht hat. Und Duquet, nachdem er ebenfalls kurze Zeit lang als Lehnsmann für Trépagny gearbeitet, dann aber ausgebüxst ist, nimmt sich erst eine Mi’kmaq zur Frau und dann sein eigenes Land.

Größenwahn, Intrigen, Rachsucht

Mit diesem Szenario beginnt Annie Proulx ihren neuesten Roman "Aus hartem Holz". Doch schon die Überschrift des ersten Kapitels zeigt: Das alles ist nur eine Episode. "Forêt, Hache, Famille" steht da – und darunter: "1693–1716". Und so wird von Beginn an klar, dass Sel und Duquet nur der Anfang sind in diesem großen Ganzen, das Proulx beschreibt.

Und tatsächlich breitet die Autorin, die mit "Postkarten" 1992 auf einen Schlag berühmt wurde und später mindestens berührende, manchmal große Romane wie "Schiffsmeldungen" oder "Das grüne Akkordeon" und Kurzgeschichten wie "Brokeback Mountain" veröffentlichte, auf den 896 Seiten dieses Buches ein ganzes Universum vor dem Leser aus. Denn Sel und Duquet werden etwas hinterlassen – Kinder, Ideen, ein Geschäftsimperium. Und diesen Kindern und Ideen und dem Geld folgt Proulx durch die Jahrhunderte und erzählt von Geschäftssinn und Grausamkeit, von Intrigen, Gier und Rachsucht, vom Größenwahn des Menschen, aber auch davon, wie klein und unwichtig er sein kann – und von der alles überschattenden gewaltigen Natur und unserer Beziehung zu ihr. Ein Dauerthema bei Proulx.

Dabei wirkt dieser Roman wie eines dieser überdimensionierten Historiengemälde, die im Vordergrund eine Schlacht zeigen, aber dahinter immer auch etwas von der Welt, der Natur, den Gegebenheiten der Zeit. Es ist ein Buch, das allein schon sprachlich in den Bann schlägt, mit Sätzen, die so schlicht geschrieben sind, wie sie vor profundem Wissen und einer akkuraten Beobachtungsgabe nur so strotzen.

Faszinierender Perspektivenwechsel

Nur selten überschatten stilistische Schwächen die Qualität dieses Romans, doch dafür gelingt Proulx ein faszinierender Wechsel in den Perspektiven. Mal ist sie ganz im Moment, beschreibt detailliert die Handlungen, die Umgebung, jeden einzelnen Handgriff, um im nächsten Satz schon vorauszueilen, zu raffen und den leicht atemlosen Leser zu einem neuen Ort mitzunehmen, zu neuen Menschen, neuen Szenarien. Da überqueren wir mit den Protagonisten Ozeane, wohnen ihren Geschäftstreffen in schummrigen Amsterdamer Kaschemmen bei und schlagen uns mit ihnen durch Dickicht und Unterholz, umschwirrt von Mücken und Ungeziefer.

Zehn Kapitel lang geht das so, und ohne es wirklich zu merken, ohne die Jahrhunderte zu spüren, ist der Leser plötzlich im Heute angekommen, zumindest im Jahr 2013. Längst mag er René Sel und Charles Duquet, Franzosen, Holzarbeiter – und auf der Suche nach dem Glück –, vergessen haben, doch irgendwie leben sie auch fort, in jeder Person, in jedem Satz, so wie auch das Grundthema, die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, seit Jahrhunderten fortlebt. Ein Buch, das noch lange nachhallt.

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