Krimi im Ersten

"Tatort" Berlin: Familiengeschichten

13.11.2015, 16.10 Uhr
von Detlef Hartlap
Akte gesperrt: Pathologin Nasrin Reza (links) weiß etwas, was Rubin und mehr noch Karow zutiefst erschüttert.
BILDERGALERIE
Akte gesperrt: Pathologin Nasrin Reza (links) weiß etwas, was Rubin und mehr noch Karow zutiefst erschüttert.  Fotoquelle: rbb/Volker Roloff

So viele Ereignisse, aber keine Struktur. Der zweite Tatort des neuen Berliner Teams ist oft hinreißend gespielt, doch fehlt dem Geschehen ein Mittelpunkt.

Meret Becker und Mark Waschke sind diesmal vor allem mit sich selbst beschäftigt. Dies ist ein Tatort der Familiengeschichten. Die Geschichte der Merizadis aus dem Iran erzählt von einer zufälligen und zufällig illegalen Immigration, erzählt von der allerbereitwilligsten Anpassung an deutsche Verhältnisse ("Integration" sagt man) und der zufälligen, aber unausweichlichen Ausweisung. Integration ist eben doch nicht alles.

Ein in Liebe verbundener Scherbenhaufen

Die Geschichte der Kriminalkommissarin Nina Rubin (Meret Becker) erzählt davon, dass man entweder bei der Mordkommission arbeiten sollte oder als Mutter. Beides zusammen funktioniert nur unter Tränen, Verdruss und der Möglichkeit gegenseitigen Hasses. Die Rubins sind das, was man auf Altberlinerisch eine "failed family" nennt, ein in Liebe verbundener Scherbenhaufen.

Die Geschichte des Kriminalkommissars Robert Karow (Mark Waschke) erzählt von einem Menschen, der keine Familie hat, nur Liebhaber, die er in der Kneipe aufliest. Zum Ausgleich kehrt er die Reste seiner Berufsehre, sein tadelloses Outfit und seine professionellen Fähigkeiten hervor und drapiert sie wie enge Familienangehörige um sich. Leider drohen sie ihm allesamt zu entgleiten. Er, der ermittelnde Jäger im Großstadtdschungel, wird zum Gejagten seiner Ängste und der geraunten Gerüchte. Karow sucht bei Nina Rubin Schutz, ausgerechnet bei ihr, die heftig gegen ihn ermittelt.

Die Geschichte in der ersten Folge um das Team Meret Becker und Mark Waschke ("Das Muli") erzählte von einem Haifischbecken. Berlin wurde als Vorort der Hölle inszeniert. Überleben möglich, aber niemals unversehrt und zu keiner Zeit gewährleistet.

Pfeile aller gegen alle

Die zweite Folge zeigt Berlin als Säurebecken. Sie heißt Ätzend und ist es nicht nur, weil unliebsame Zeitgenossen mit Schwefelsäure zuverlässig in die Ewigkeit versetzt werden (aber nicht rückstandsfrei genug, um keine Spuren zu hinterlassen...). Ätzend sind vor allem die Beziehungen untereinander, die Pfeile aller gegen alle, die Anfeindungen, die Klagen.

Rubin misstraut Karow, Karow misstraut Rubin. Rubin misstraut ihrem Mann, den sie trotzdem gern wieder zurück in der ehelichen Wohnung sähe. Aber der Krankenhausarzt Dr. Viktor Rubin (Alexander Tesla) weiß, diese Frau ist mit dem Verbrechen verheiratet.

Das Ehepaar liebt sich für einen stürmischen Moment im Auto, doch schon der erste Anruf ihres Kollegen vom Kommissariat reißt Rubin wieder hoch und hinaus in die Nacht. Mördersuche geht über Familie. Tatort-Zuschauer kennen das von der Dortmunder Rubin-Kollegin Bönisch (Anna Schudt), die schon einen Schritt weiter ist auf der abschüssigen Leiter – sie versucht gerade, sich Mann und Söhne ganz aus dem Sinn zu schlagen.

Dies ist ein Tatort wie das Leben selbst. Ein Kind wird geboren, den Merizadis. Eine innige Schülerliebe (die Berliner Göre Ira und Arash, der junge Merizadi) scheitert unter anderem an den kleinlichen Bedenken von Iras Mutter. Die Frau eines in der vorigen Folge erschossenen Drogenhändlers würde gern erfahren, woher ihr Wohlstand kommt und warum sie und ihre beiden Töchter bedroht werden. Karow versucht quälende Fragen aus seiner Vergangenheit zu beantworten und findet bei einer Zigarette morgens auf dem Balkon den einzigen Moment der Besinnung, bis das Handy wieder schrillt.

Die Handflächen bleiben trocken

Das alles wirkt indes eher interessant als spannend, wird eher gekonnt gespielt, als dass es wirklich einmal zu Herzen ginge. Schön und gut, wenn sich Meret Becker auf ihren Jüngsten wirft und mit ihm tollt; schön und gut, wenn Carolyn Grenzkow die bienentüchtige Polizeipraktikantin gibt und dabei zuckersüß aus der Wäsche guckt. Doch haben es Regisseur Dror Zahavi und seine Drehbuchautoren versäumt, dem Zuschauer etwas zum Mitfiebern, zum Mitleiden zu geben. Anders als in "Das Muli" bleiben die Handflächen trocken.

Ein bisschen Schmu aber sollte schon sein, auch im kaltharten Berlin.

Die Abschiebung der Merizadis wird in Schwarzweiß gezeigt, unheilschwanger wie der Weg ins KZ. Der Zuschauer aber denkt: och je, die Armen! Und vergessen sind sie.

"Tatort: Ätzend", am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

Das könnte Sie auch interessieren