Krimi im Ersten

Tatort München: Tragik eines Schneeflöckchens

04.12.2015, 15.45 Uhr
von Detlef Hartlap
Eine Tierpflegerin, die Hilfe braucht: Emma (Anna Drexler) leidet schwer unter den Ereignissen in ihrer Kindheit.
BILDERGALERIE
Eine Tierpflegerin, die Hilfe braucht: Emma (Anna Drexler) leidet schwer unter den Ereignissen in ihrer Kindheit.  Fotoquelle: Bernd Schuller

Eine tieftraurige Geschichte, der die junge Schauspielerin Anna Drexler Halt gibt und morbiden Glanz verleiht.

Es sind zwei Szenen, die den Münchner Tatort Einmal wirklich sterben unvergesslich machen. Unvergesslich? Wenn wir nächste Woche noch davon erzählen würden, wäre das in der obwaltenden Ereignis- und Informationsflut schon eine kleine Ewigkeit.

Szene 1. Ein kleiner Junge, vielleicht erstes Schuljahr, sinkt, von seiner Mutter fürsorglich gebettet, in den Schlaf. Oben in seinem Zimmer. Der Zuschauer hat bereits gesehen, dass das stille Vorstadthaus beobachtet wird. Der Zuschauer hat nicht gesehen, von wem es beobachtet wird. Wenig später kommt es im Parterre zum Tumult, ein Schuss (oder was man dafür halten könnte) schallt durchs Haus, und der Junge wird wach.

Geh nicht runter, möchte man ihm zurufen. Aber natürlich tapst er die Treppe hinab. Er wird seine Mutter tot auf dem Küchenboden finden und seinen Vater, von dem wir später erfahren, dass es sein Stiefvater ist, angeschossen daneben. Er atmet noch.

Später, viel tiefer im Film, wird der Junge, Quirin heißt er, in fester Überzeugung sagen: "Mami schläft." Es ist zum Heulen.

Erst der Sohn, dann seine Frau

Szene 2. Sie spielt 15 Jahre vor Szene 1. Ein Handwerker ist in das geraten, was man heute gern "Schuldenfalle" nennt. Da er keine Bank ist, wird er auch nicht gerettet, sondern verurteilt. Das Schicksal eines normalen Steuerzahlers. Er muss seinen Betrieb hergeben und demnächst auch sein Haus, das er mit Frau und zwei Kindern bewohnt.

Der Zuschauer kennt diese Vorgeschichte, als er den Handwerker an seinem Haus vorfahren sieht. Er verfolgt ihn in den Flur, in den schmalen Raum zwischen Küche und Esszimmer und sieht, wie die Augen seines Sohnes glücklich aufleuchten: "Papi!"

Da hebt Papi die Pistole, die er verborgen hielt, und schießt. Erst erschießt er den Sohn, dann seine Frau. Er bettet die Toten wie ein trauernder Hinterbliebener, stürzt die Treppe herab und schaut in das Gesicht seiner siebenjährigen Tochter Emma, die gerade nach Hause kommt.

Lauf weg, fordert er sie auf, nennt sie in einer Aufwallung von Zärtlichkeit "Schneeflöckchen", "mein Schneeflöckchen". Natürlich läuft Emma nicht, sie versteht nicht, was los ist.

Erst als der Vater die Pistole hebt und sie anschreit, stürzt sie hinaus aufs Feld, fort von dem Haus, in dem etwas passiert ist, von dem sie nichts weiß und das sie nie verstehen wird. Ein Schuss kracht ihr hinterher, der Vater hat sich, wie man sagt, selbst gerichtet.

Bemüht um Glaubhaftigkeit

Zwei Familientragödien in einem Tatort. Wird da nicht ein bisschen dick aufgetragen? Klar, wird es das. Mit Speck fängt man Mäuse, mit Tragik den Tatort-Zuschauer. Aber im Gegensatz zum üblichen, oft an den Haaren herbeigezogenen Pseudo-Drama, bemüht sich diese Folge (Drehbuch: Claus Cornelius Fischer und Dinah Marte Golch) um Glaubhaftigkeit, langen Atem und die Frage: Welcher Art können die Narben sein, die eine Tragödie in der Kindheit im Wesen eines Menschen hinterlässt.

Offenbar riesengroßer. 15 Jahre nach dem grausigen Ende einer Familie arbeitet Emma im Zoo, hütet die Elefanten. Sie hat in der Zwischenzeit als Adoptivtochter in einer Familie gelebt, in der sie nicht das Schneeflöckchen war, sie hat eine Ausbildung genossen, gilt als eine hervorragende Tierpflegerin. Könnte sie nicht doch geheilt, wenigstens gefestigt sein?

Seelische Wunden heilen nicht, sie vernarben, und wenn an ihnen gerührt wird, brechen sie auf. Manche Menschen bekommen solche Situationen in den Griff, wenn auch unter größter Pein. Emma schluckt Pillen, schwere Antidepressiva. Jahraus, jahrein. Sie arbeitet mit Elefanten, eine Elefantenhaut ist ihr deshalb aber nicht gegeben.

Dann kommt es zu einer Begegnung im Zoo, wie beiläufig in das Geschehen hineingepuzzelt: Ihr Vater, der seinen Selbstmordversuch überlebt hat und nach 14 Jahren aus der Haft entlassen wurde, macht mit seinem Stiefsohn Quirin einen Besuch bei den Elefanten. Bei Emma. Ein Blickkontakt, mehr nicht. Aber die Vergangenheit beginnt wieder zu leben, sie bekommt Emma ganz schnell in den Griff und ihren Vater möglicherweise auch.

Mit dieser Begegnung geht der Vorhang auf für das Drama aus Szene 1: Nächtlicher Besucher aus dem Dunkeln des Gartens, Gerangel in der Küche, ein Schuss, zwei Schüsse, der kleine Junge Quirin, der plötzlich Waise ist. Halbwaise.

Denn sein leiblicher Vater ist auch noch da. Klaus Pohl spielt ihn. Klaus Pohl ist Spezialist für aufbrausende, unkontrollierbare Charaktere. Dieser hier stellt sich ständig selbst ein Bein. Er wird zum ersten Verdächtigen, doch schnell verlängert sich die Liste, und, klar, auch Emma ist eine potenzielle Kandidatin für einen Rachefeldzug gegen die neue Familie ihres Vaters. Könnte sie das?

Anna Drexler macht diesen Tatort sehenswert

Anna Drexler spielt diese verstörte, ängstliche, sich anscheinend nur im Tiergehege frei bewegende Emma, ein großartiges kleines Psychogramm, das sie hier abliefert, und zweifellos die Person, die diesen Tatort sehenswert macht.

Anna Drexler ist Tochter des Burgschauspielers Roland Koch (war gelegentlich als höchst unwahrscheinlicher Schweizer Kommissar am Bodensee im Einsatz). Sie wurde vor zwei Jahren von der Schauspielschule weg an die Münchner Kammerspiele engagiert. Sie gilt als Riesentalent. Hier gibt sie eine Kostprobe.

Zu erwähnen sind außerdem, nein, nicht die Münchner Kommissare, aber vielleicht Olivia Pascal, bekannt vom Traumschiff, aus der Schwarzwaldklinik und ähnlichen kulturellen Highlights, die das Kunststück fertigbringt, mit einem wie dem Klaus-Pohl-Typen zusammenzuleben.

Schließlich, Emmas Vater, gespielt von Harald Windisch. Eine erstaunlich kleine Rolle in Anbetracht der Schicksalsschläge, die er auslöst beziehungsweise hinnehmen muss. Erst richtet er wie einer dieser ehrpusseligen Feiglinge, die ihren sozialen Abstieg nicht verkraften und andere mit in den Tod reißen, ein Blutbad an; dann erlebt (und überlebt) er in seiner zweiten Familie ein weiteres Gemetzel.

Man sieht ihn auf Intensivstation; er atmet ruhig, das Leiden wird für ihn kein Ende nehmen. Einmal richtig sterben, das könnte, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt, sein größter Wunsch sein.

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