"Liebe und andere Grausamkeiten" (1993) ist der erste englischsprachige Kinofilm von Denys Arcand - 1983 war er bereits Regisseur und Co-Autor der Erfolgsserie "Empire Inc." der CBC. Der Regisseur und Drehbuchautor zählt zweifellos zu den wichtigsten Filmemacher Kanadas. Arcand verbrachte neun Jahre in einer Jesuiten-Schule, bevor er sich an der Universität von Montreal einschrieb, um Geschichte zu studieren. Bereits zu dieser Zeit drehte er einen Kurzfilm.
In den 60er Jahren drehte er viele Kurz- und Dokumentarfilme und errang mit "On est au roton" (1969) und "Quebec: Duplessis et apres" (1970) einen Platz unter den führenden Dokumentarfilmern seines in diesem Genre seit jeher profilierten Landes.
In den 70er Jahren war er, wie fast alle frankokanadischen Cineasten, einer der führenden Propagandisten eines unabhängigen Quebec und trug mit "Dreckiges Geld" (1971) und "Gina" (1974), vor allem aber dem meisterhaften "Rejeanne Padovoni" (1972), einer bissigen Parabel um Macht, Gier und Korruption, sehr viel dazu bei, daß der Quebecer Film mehrere Jahre lang zu den Favoriten internationaler Filmfestivals und -kritiker gehörte.
In dieser Zeit erwarb er sich allerdings auch einen nachhaltigen Ruf als enfant terrible seiner Zunft. Danach arbeitete er für National Film Board of Canada, für das 1969 auch sein erster langer Dokumentarfilm "On est au coton", eine kontrovers diskutierte Chronik über die unmöglichen Arbeitsbediungungen innerhalb der Textil-Industrie entstanden war.
"Gina" war wieder eine politische, ebenfalls kontrovers aufgefaßte Dokumentation, die auf seinen Erfahrungen, die er bei den Dreharbeiten zu "On est au coton" gesammelt hatte, basierte und erzählt die gewaltvolle Geschichte um einen Stripper und ein Film-Team, das gerade eine Dokumentation über die Textil-Industrie dreht. Doch noch blieben Arcands Werke relativ unbekannt.
Nach einer langen schöpferischen Pause, in der er sich vorwiegend als Drehbuchautor und nur gelegentlich als Fernsehregisseur und Dokumentarist betätigte, fand er in Roger Frappier einen engagierten Produzenten, der ihm die Möglichkeit gab, mit "Der Untergang des amerikanischen Imperiums" (1986) und "Jesus von Montreal" zwei Filme zu realisieren, die ihm endgültig einen Platz unter den erfolgreichsten und meistgeschätzten Regisseuren unserer Zeit sicherten.
"Untergang des amerikanischen Imperiums" präsentierte acht Intelektuelle (je vier Frauen und Männer), deren desillusioniertes Leben sich hauptsächlich um Sex dreht. Trotz seines starken Zynismus wurde der Film dank seiner brillanten Dialoge, seiner konsequenten Konzentration auf ein provozierendes Thema und seiner hohen künstlerischen Qualität zu einem weltweiten Erfolg, wie er bis dahin für einen kanadischen Film unvorstellbar gewesen war. Er wurde als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert, gewann bei den Filmfestspielen in Cannes den FlPRESCI-Preis und erhielt viele weitere Auszeichnungen wie etwa neun Genies (der kanadische Oscar).
In "Jesus von Montreal" (1989) benutzt Arcand wieder seinen zynischen Humor, um das bemerkenswerte Porträt und den Überlebenskampf einer Schauspiel-Truppe aus Montreal zu zeigen. Die Darsteller spielen abends ein ambitioniertes Passionsspiel, müssen sich tagsüber aber mit Werbe- und Pornofilmen über Wasser halten. Das Ganze basiert auf der wahren Geschichte eines Schauspielers.
Diese zeitgenössische Allegorie nach der Matthäus-Passion zeigte einen ganz neuen, leidenschaftlich mitfühlenden Arcand, ohne daß deswegen seine Qualitäten als sarkastischer Kommentator zeittypischer Deformationen zu kurz gekommen wären. Auch dieser Film, der (anders als in Deutschland) in vielen Löndern der Welt ein zahlreiches, begeistertes Publikum fand, wurde für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Außerdem war er Arcands erster Wettbewerbsbeitrag zu den Filmfestspielen in Cannes.
"Liebe und andere Grausamkeiten" ist Arcands erster Spielfilm, dessen Drehbuch in wesentlichen Elementen nicht von ihm selbst stammt. Dennoch ist seine persönliche Handschrift unverkennbar. Auch dieser Film brilliert mit Dialogen von emotionaler Tiefe und intellektueller Schärfe, und erneut wagt und gelingt Arcand das Jonglieren mit vielen gleichwertigen Hauptrollen mit einer Souveränität, wie sie sonst (mit ganz anderen Mitteln) nur noch von Robert Altman erwartet werden darf.
Danach arbeitete Arcand in fast völliger Abgeschlossenheit an dem Buch zu seinem nächsten Spielfilm "Joyeux Calvaire" (1996), der hierzulande - wie auch "Le Confort et l'indifférence" (1982), "Das Verbrechen des Ovide Plouffe" (1984) und "Montréal vu par..." (1991) - leider nicht gezeigt wurde. Und 2003 entstand "Die Invasion der Barbaren".
Außerdem spielt Arcand nicht nur in "Jesus von Montreal" und "Montréal vu par..." eine Gastrolle, sondern auch in den von Jean-Claude Lauzon inszenierten Satiren "Night Zoo" (1987) und "Léolo" (1992).