Es kann der Glücklichste nicht glücklich sein, wenn es dem Nachbarn noch viel besser geht. Der neue Kieler "Tatort" mit dem immer freundlicher werdenden Kommissar Borowski blickt tief hinein in die Neidgesellschaft unserer Zeit.
Was für eine spektakuläre Szene gleich zu Beginn! Die Kamera fährt von oben hinab auf eine typische Wohnhaussiedlung zu, wie es sie zu Tausenden hierzulande gibt: Einfamilienwohnhäuser mit hübschen Gärten, viele Pinien, dazwischen saubere Straßen. Es geht weiter und weiter und schließlich hinein durchs Fenster in ein typisch deutsches Wohnzimmer – das ein paar Minuten später so aussieht, als sei ein Elefant durchmarschiert. Tatsächlich aber ist da eine blonde Frau durchgedreht. Sie holte den Rasenmäher ins Haus ... und mähte. Erst den Flokati und dann noch viel mehr. Es folgt der beliebte filmische Kunstgriff: Die Handlung setzt zurück und beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem alles noch gut war. Was also ist mit der Frau geschehen? Der Zuschauer wird es bald schon erfahren im neuen Kieler "Tatort", der den etwas sperrigen, aber gut gewählten Titel "Borowski und das Glück der Anderen" trägt.
Der Autor Sascha Arango hat schon eine Vielzahl von Krimis geschrieben. Und die meisten von ihnen eint die Tatsache, dass der Zuschauer den Täter kennt. Das ist auch hier nicht anders. Die Schuldige heißt Peggy Stresemann und wird gespielt von einer grandios aufgelegten Katrin Wichmann, auf die der gesamte Film zugeschnitten ist. Peggy ist Durchschnitt. Ihre Ehe mit Micha (Aljoscha Stadelmann) ist Durchschnitt. Ihr Job als Supermarktkassiererin ist Durchschnitt. Ihre finanzielle Lage ist es, ihr Umfeld ist es. Alles ganz normal auf den ersten Blick ...
Blöd, wenn nebenan noch mehr Glück wohnt
Doch dann erfährt Peggy ganz zufällig, dass ein Lottomillionär in Kiel gesucht wird. Und zeitgleich sieht sie hinüber ins Haus ihrer neu zugezogenen Nachbarn. Sie halten einen Zettel in Hand, fallen sich in die Arme. Am nächsten Tag wird die Nachbarin Victoria (Sarah Hostlettler) sogar Champagner an Peggys Kasse kaufen. Und die ist sich sicher: Die Neuen da drüben haben 14 Millionen Euro gewonnen. Ohne groß nachzudenken, beschließt sie, nebenan über die Garage ins Haus einzusteigen und sich auf die Suche nach Lottoschein zu machen. Sie, das ständig an der Kasse und im Leben übersehene Durchschnittsmädchen, will auch ein einziges Mal Glück haben. Und es notfalls erzwingen.
Dumm nur, dass Victorias Mann Thomas (Volkram Zschiesche) überraschend nach Hause kommt und die ihm unbekannte Nachbarin auf dem Bett sitzend vorfindet. Gerade noch hatte sie im Nachttisch eine Waffe gefunden. Thomas provoziert, fragt süffisant und voller Missachtung die Frau auf dem Bett, ob sie die Putzfrau wäre – und Peggy schießt. Siebenmal. Dann geht sie heim, blutüberströmt, tut, als sei nichts gewesen und träumt weiter von den Millionen.
Kommissar Borowski (Axel Milberg) und seine neue Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriaci), die ihren zweiten Einsatz hat, kommen an den Ort der Tat, nachdem die Ehefrau ihren Mann blutüberströmt aufgefunden hat. Die Lage scheint klar: Es muss eine Beziehungstat gewesen sein, nachdem es nicht einmal Einbruchsspuren gibt. Victoria ist schockiert, beinahe schon unzurechnungsfähig, doch sie streitet die Tat ab. Mila Sahin glaubt ihr nicht. Borowski, ganz im Columbo-Stil, erkennt früh Ungereimtheiten und beginnt seine Ermittlungen.
Warum fahren die Menschen brav 50?
Das Besondere an dieser Täterin, die Sascha Arango da ersonnen hat, ist die Tatsache, dass sie sich eigentlich zu keinem Zeitpunkt einer Schuld bewusst ist. Sie glaubt fest daran, dass ihr das Glück eines Tages zusteht. Und sie hält ihre Tarnung in der Folge auch ganz ordentlich aufrecht. Dass sie keine Skrupel kennt, erklärt der Autor charmant so: "Die wenigsten Menschen haben moralische Skrupel. Die meisten haben nur Angst vor Strafe. Keiner fährt 50, weil er meint, das sei richtig so, sondern alle fahren 50, weil sie nicht geblitzt werden wollen." Peggy fühlt sich sicher. Wer sollte schon auf die Idee kommen, dass die ach so durchschnittliche Nachbarin die Mörderin sein könnte? Bis ihr Leben dann doch aus den Fugen gerät. Und der Rasenmäher zum Einsatz kommt.
Der Neid und das Wesen des Glücks – das sind die beiden großen Themen dieses natürlich überzogenen, aber fein gestrickten und höchst unterhaltsamen Krimis. Nur Geld kann Glück sein, denkt sich Peggy und beneidet all jene, die es haben: das Geld, nicht das Glück. In einer Gesellschaft, die sich immer weniger an sich selbst, sondern stets am Glanze der Anderen orientiert, fühlt sie sich – ohne Not – schlecht und vergessen. Ein Thema, das bestens in diese Zeit passt, da in den sozialen Medien jeder für sich in seiner Eigendarstellung in Bild und Wort nur die Sonne scheinen lässt.
"Wettbewerb um das Glücklichsein"
Regisseur Andreas Kleinert, der schon einige Borowski-"Tatorte" inszenierte, erzählt das alles immer wieder auch mit einem Augenzwinkern. Streckenweise ist dieser "Tatort" fast schon eine Vorstadt-Komödie. Und doch wird er zum Nachdenken anregen, weil er einen schonungslosen Blick auf die Gegenwart wirft. Kleinert: "Es ist eben auch ein politischer Stoff in einer Zeit, in der die Vergleichbarkeit im Fokus steht. Es ist ein Wettbewerb um das Glücklichsein entstanden, der aber nur unser Konsumverhalten widerspiegelt. Alle wollen sich optimieren, und dadurch rennen wir im ewigen Kreislauf dem vermeintlich Besseren hinterher."
Weil das stimmt, ist "Tatort: Borowski und das Glück der Anderen" ein wirklich interessanter Film geworden, der sicher eher etwas Parabelhaftes denn etwas Realistisches hat, aber eben doch sehr wahrhaftig geraten ist.