30.05.2023 Musik-Journalistin im Gespräch

„R.E.M. haben sich nie angebiedert“

Von Felix Förster
Birgit Fuß arbeitet für die deutsche Ausgabe des Rolling Stone.
Birgit Fuß arbeitet für die deutsche Ausgabe des Rolling Stone. Fotoquelle: Friedericke Göckeler

Die erste deutschsprachige Biografie der amerikanischen Band R.E.M. heißt „Life And How To Live It“ und wurde von der Musik-Journalistin Birgit Fuß verfasst. In prisma erzählt sie von ihren Treffen mit der Band, und wieso sie nicht glaubt, dass sich die Superstars irgendwann wieder zusammentun werden.

Wann ist die Idee entstanden, die erste deutschsprachige R.E.M.-Biografie zu schreiben?

Anfang 2022 habe ich mit dem Verleger Andreas Reiffer darüber gesprochen, dass es bisher keine deutsche R.E.M.-Biografie gibt - und die wenigen übersetzten Bücher sind alle nicht mehr aktuell. Die meisten legen den Fokus auf die 80er- und 90er-Jahren, dabei ist bei der Band ja auch danach (und selbst nach ihrer Auflösung 2011) noch einiges passiert. Ich wollte etwas Umfassenderes schreiben, nichts rein Chronologisches. Mehr als eine Biografie, auch eine Art Enzyklopädie und eine Analyse der Bandgeschichte.

Wie sind Sie an diese Mammutaufgabe herangegangen? Hatte die Band irgendeinen Einfluss?

Material hatte ich genug. Ich beschäftige mich seit 30 Jahren intensiv mit der Band, über keine andere habe ich so viel gelesen, keine andere habe ich so oft getroffen. Also konnte ich aus meinen eigenen Interviews und Beobachtungen schöpfen. Ein Prinzip von R.E.M. ist es, sich bei Biografien niemals einzumischen, aber ich habe ihnen schon von dem Projekt erzählt, und alle haben mir viel Glück gewünscht. Michael Stipe hat mir sogar erlaubt, einen seiner Songtextzettel, den ich 1999 bei einem Konzert gefangen hatte, abzudrucken. Solche Details (wie auch die Listen mit allen Tieren und Pflanzen in R.E.M.-Songs, allen Coverversionen und so weiter) waren mir wichtig - dass es also auch für R.E.M.-Nerds noch was zu entdecken gibt.

Sie schreiben es sehr schön in Ihrem Buch: „Egal, ob R.E.M. in Stadien oder großen Hallen spielten, sie waren eine Band für die Nerds, sie gehörten niemals ganz dem Mainstream, sondern immer noch uns.“ Was ist das Besondere an dieser Band?

R.E.M. haben sich nicht angebiedert, sie haben ihre Identität und Integrität nie dem Erfolg geopfert. Keine Plattenfirma durfte ihnen reinreden, sie diktierten die Bedingungen. Egal ob Nirvana, Green Day oder Coldplay: Für so viele Bands waren R.E.M. ein Vorbild dafür, wie man im recht korrupten Musikgeschäft gut durchkommen kann, ohne sich zu verbiegen.

R.E.M. hatten immer ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Mainstream und dem großen Erfolg und bei der Band war das mehr als eine Pose. Woher kommt diese Einstellung?

R.E.M. kamen ja aus einer sehr speziellen Musikszene, Anfang der 80er-Jahre war Athens/Georgia sozusagen ein Alternative-Rock-Hotspot - mit vielen Bands, die musikalisch etwas exaltierter, künstlerischer waren, die B-52's zum Beispiel. Die meisten sind mit dem ersten Plattenvertrag gleich nach New York oder L.A. gezogen, aber R.E.M. blieben zu Hause, sie haben sich langsam hochgearbeitet und dabei wenig Kompromisse gemacht. Dass "Losing My Religion" dann so ein Welthit wurde - das ist ja eigentlich ein Versehen gewesen: Einen Song mit einer Mandoline hatte es auf Platz 1 der US-Charts noch nicht gegeben.

Sie bezeichnen sich selbst als Fan, wie kamen Sie mit der Band in Berührung?

Als ich 20 war und Praktikantin bei der "Hamburger Morgenpost", gab mir mein Chef zwei R.E.M.-Alben mit, weil er fand, ich sollte nicht nur Guns N'Roses und Bon Jovi hören. Er hatte recht! (Natürlich war mein Musikgeschmack auch damals schon etwas differenzierter.) In den folgenden Jahrzehnten habe ich mehr als ein Dutzend Interviews gemacht, war auf über 30 Konzerten. Das Wort "Fan" mag ich nicht so gern, aber natürlich liebe ich die Band. Wer würde mehr als 300 Seiten über eine Band schreiben, die er doof findet?

Die Band ist bekannt für ihre verschiedenen Phasen und Stilrichtungen, welcher ist Ihr Lieblingsmoment von R.E.M.?

Mein Lieblingsalbum ist "Automatic For The People", aber besonders schön fand ich die kleineren Konzerte, die sie 1998/1999 nach "Up" gegeben haben - da waren sie gerade zum Trio geschrumpft und noch ziemlich fragil, dabei besonders berührend.

Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck und Bill Berry sind so überhaupt nicht die typischen Rockstars. Sie haben als Redakteurin des Rolling Stone schon viele Musiker interviewt, was explizit unterscheidet R.E.M. von anderen Bands?

R.E.M. kamen mir immer etwas klüger und etwas sensibler als die meisten anderen Rockbands vor - und sie wussten immer genau, was sie wollten und was nicht. Sie haben es geschafft, ihre Egos im Zaum zu halten, und (Geld-)Gier ist ihnen anscheinend recht fremd. Vor allem kenne ich aber kaum Bands, in denen gleich vier Leute sehr gute Songs schreiben können, nicht nur Sänger und Gitarrist. Bei R.E.M. hatte der Schlagzeuger die Idee für den Hit "Everybody Hurts", vom Bassisten stammt das grandiose "Nightswimming". Und gemeinsam haben sie dann ein außergewöhnliches, großes Werk geschaffen - und einfach so aufgehört, als sie immer noch vor Tausenden Leuten gespielt haben. Welche Band hört denn jemals auf, solange es noch gut läuft - und lässt sich dann nicht zu einer Reunion überreden?

Sie haben die Band-Mitglieder im Laufe der Jahre als Journalistin häufig getroffen, Michael Stipe hat Ihnen sogar einmal persönlich für Ihre Arbeit gedankt. Welche Momente sind Ihnen da besonders im Gedächtnis geblieben?

Für mich waren immer die Momente am schönsten, wenn es etwas schräg wurde. Weil R.E.M. eben keine professionellen Antwortmaschinen sind, sondern man ihnen auch anmerkte, wenn sie etwas störte. Einmal saß ich mit Michael Stipe in einem New Yorker Hotelzimmer, er war hungrig und etwas zerstreut, und die Klimaanlage machte komische Geräusche. "Die explodiert jetzt gleich", sagte er - und als ich spontan erwiderte, dann müsse er vielleicht nie wieder ein Interview geben, lachte er so laut, dass ich fast Angst bekam. Danach war er dann gesprächiger.

Sie sind der Band zum ersten Mal Mitte der 90er-Jahre begegnet und damit geht es Ihnen wie den meisten deutschen Rockfans, denn vor ihrem hiesigen Durchbruch mit dem Album „Out Of Time“ und dem Hit „Losing My Religion“ kannten nur wenige diese Band. Wie bewerten Sie die Musik der Band in den 80er-Jahren?

Schon auf ihrem Debüt "Murmur" 1983 klangen R.E.M. anders als alle anderen – diese seltsamen, irgendwie verwaschenen Sounds, die teils unverständlichen Texte, die Südstaaten-Mythen und Moderne zusammenbrachten: Das war schon sehr besonders, und auf den folgenden Alben wurden sie etwas zugänglicher, aber blieben immer rätselhaft. Deshalb sind die Platten bis heute nicht langweilig.

Im Gegensatz zu vielen anderen, sehr erfolgreichen Bands, haben R.E.M. beizeiten aufgehört, weil sie das Gefühl hatten, alles gesagt zu haben. Warum fällt es so vielen Bands so schwer, den Absprung zu schaffen?

Michael Stipe hat mal gesagt, "in einer weltbekannten Rockband zu sein ist schon verdammt spektakulär, viel besser wird's nicht". Natürlich wollen die meisten sich diesen Status möglichst lange erhalten. Offensichtlich waren R.E.M. Ruhm und Rampenlicht nicht so wichtig, sie wollten ihr Werk nicht verwässern, indem sie irgendwann nur noch als Greatest-Hits-Act durch die Gegend touren.

Glauben Sie auch, dass R.E.M. niemals eine Reunion-Tour machen wird? Einen Ausverkauf wird es da nicht geben?

Nein. Falls es irgendwann mal einen sehr guten Zweck geben sollte, könnte ich mir vorstellen, dass sie ein Benefiz-Konzert spielen, aber das wäre eine einmalige Sache. Ich glaube nicht, dass Geld oder Geltungsdrang sie zu einer längerfristigen Wiedervereinigung locken könnten.

Was halten Sie davon, wenn Bands weitermachen, obwohl sie recht deutlich den Zenit überschritten haben? Bestes Beispiel ist für mich U2, die aktuell selbst älteste Hardcore-Fans verprellen.

Ich hoffe, U2 machen noch sehr lange weiter! Man muss die aktuellen Neuinterpretationen nicht mögen, aber die Art, wie Bono und seine Kollegen zusammenhalten und sich selbst immer wieder herausfordern und sich nicht zufriedengeben mit dem Erreichten, hat schon auch Ähnlichkeit mit R.E.M. - bloß dass U2 immer mehr Ehrgeiz hatten, nicht nur gut, sondern auch groß zu sein. Bei R.E.M. war weniger Ego, deshalb fiel es ihnen wohl auch leichter, sich rechtzeitig zu verabschieden.

Fast zeitgleich mit Ihrem Buch „R.E.M. – Life And How To Live It“ erscheint auch die bisher ausführlichste englischsprachige Band-Biografie „Maps And Legends“ von John Hunter. Anlass ist auch da der 40 Jahrestag des Erscheinungsdatums des ersten Albums „Murmur“. Haben Sie Hunters Werk schon gelesen?

Noch nicht, aber wir haben gerade Kontakt aufgenommen und uns gegenseitig unsere Bücher geschickt. R.E.M.-Freunde halten zusammen, da gibt es keine Konkurrenz. (Wobei ich mich natürlich freuen würde, wenn mein Buch auch eine englische Übersetzung kriegen würde...) Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er keine eigenen Interviews mit R.E.M. gemacht, und das Buch ist rein chronologisch angelegt, also auch ganz anders als meines.

Wie steht es insgesamt um Literatur über R.E.M.? Konnten Sie Quellen nutzen?

Natürlich, das geht ja gar nicht anders. Ich habe 1996 begonnen, selbst Interviews mit R.E.M. zu machen. Besonders bei den Jahren davor habe ich also auf andere Quellen zurückgegriffen – zum Glück hatte ich schon alles zu Hause: Zwei Dutzend Bücher, sehr viele Magazine. An Material mangelte es nicht, aber das dann auszuwerten, abzuwägen und zu beurteilen – das macht meiner Meinung nach eine gelungene Biografie aus. Und ich habe dann eben noch viel Eigenes hinzugefügt, unter anderem auch eine ausführliche Songtextanalyse, viele Listen und andere Details.

Sie sind bekannt dafür, auch als Redakteurin das Fan-Sein nie vergessen zu haben. Gerade diese Herangehensweise zeichnet Ihre Artikel aus. Gab es aber trotzdem auch schon einmal Momente, in denen Ihnen das Sprichwort „Never meet your heroes“ in den Sinn gekommen ist?

Natürlich. Zum Beispiel, als ich das erste Mal Lou Reed traf und er nicht gerade freundlich war. Ein paar Jahre später habe ich mich trotzdem wieder um ein Interview beworben, und plötzlich kamen wir sehr gut miteinander aus. Ich nehme den R.E.M.-Songtitel "Walk Unafraid" ernst: Ich würde immer lieber bereuen, etwas gemacht zu haben, als es nicht gemacht zu haben. In diesem Sinne würde ich sehr gern irgendwann einmal mit Axl Rose sprechen.

Wird es in Zukunft weitere Biografien von Ihnen geben?

Ich schreibe ja schon tagsüber für den ROLLING STONE sehr viel über Musik, aber ausschließen würde ich es nicht. Jetzt erscheint allerdings im November erst einmal ein ganz anderes Buch von mir – ein Bericht über meine Erfahrung mit Tod und Trauer und der Liebe, die bleibt. Es wird „Sterben darfst du aber nicht“ heißen.

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