Zeit, dein Name sei Ungeduld! Die Tage galoppieren davon, die Zeit kennt kein Pardon. Vermutlich war das immer schon so, aber heute meinen wir, das Ticken der Uhren und das Fallen der Kalenderblätter besonders laut zu hören. Selbst Jahreszeiten sind nicht mehr das, was sie waren.
Frühling? Alle lieben ihn, es grünt so grün, die Lüfte wehen lind, die Autos legen ihre Dächer ab. Es geht endlich los, die Ausflüge ins Grüne liegen vor uns.
Sommer? Noch besser! Grillen, wandern, Rad fahren, das Dreigestirn der deutschen Freizeitgestaltung. Zwischendurch Urlaub.
Herbst? O je, ist das Jahr denn schon vorbei? Bald kommt Weihnachten, alles verging wieder wie im Fluge.
Zeit ... Warum schreiben wir das, wenn wir über das Gartenreich Dessau-Wörlitz zu schreiben versprochen haben?
Weil es gerade 250 Jahre alt geworden ist, das Gartenreich, weil sich zwischen Landhäusern, die "Luisium" heißen, und Venustempel ein Gefühl von Ewigkeit einstellt. Weil die Zeit stillzustehen scheint und weil, und das ist überraschend, vor 250 Jahren von einer Frühjahrseuphorie, wie wir sie heute empfinden, weniger zu spüren war.
Es grünte ja nichts, damals. Die Winter waren streng und dauerhaft, die Zeit verging einfach nicht, und viele Blüten ließen sich vor Sommeranfang nicht blicken. Was doch blühte, war im 18. Jahrhundert eher mickrig. Das historische Stiefmütterchen etwa ist mit dem heutigen nicht zu vergleichen.
Ein "Indian Summer" in Sachsen-Anhalt
Die beste Zeit fürs Gartenreich war damals wie heute der Herbst. Die Laubbäume, von denen es im Park mehr gibt als in manchen Wäldern, nehmen Farbe an, beginnen zu leuchten und zeigen, dass ein "Indian Summer", mit dem man in Amerika viel Bohei macht, auch in Sachsen-Anhalt zu haben ist.
"Ich begrüße Sie alle recht herzlich", sagt Annette Scholka, Baudenkmal-Pflegerin der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, "Sie stehen vor einem der berühmtesten Gebäude der deutschen Baugeschichte."
Die Besuchergruppe betrachtet mit noch mehr Ehrfurcht im Blick, was sie ohnehin schon vor Augen hatte – das erwähnte "Luisium". Fürst Franz ließ es 1774–78 für seine Gattin Luise bauen, ein ockergelber Klotz, aber doch auch harmonisch und angenehm mit einem krönenden Belvedere. Ausführende Hand hatte, wie meistens bei Fürst Franz, der Dresdner Baumeister Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff.
Er versah die Wände mit allerhand pompejisch anmutenden Dekorationen, was wiederum ganz im Sinne seines Herrn und Fürsten gewesen sein muss. Denn Franz – nennen wir ihn einmal bei vollem Namen: Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau – dieser Franz hatte sich, bevor er sich seiner Lebensaufgabe zuwandte, im alten Neapel und damit auch in Pompeji rumgetrieben.
Zu seiner Lebensaufgabe wurde das Projekt "Meine Heimat soll schöner werden", was sich in Gartenreich, Palästen, Kirchen, Torbögen und Brücken niederschlug.
Von seiner Grand Tour durch Italien brachte er das Erlebnis eines klitzekleinen Vesuv-Rülpsers mit. Prompt ließ er im Park, auf der Insel "Stein", einen Kleinstvulkan aufschichten, der künstlich zur Eruption gebracht werden kann.
Wo endet dieser Park?
"Wir machen jetzt einen Aufstieg hoch zum Belvedere", schlägt, keinen Widerspruch duldend, Annette Scholtka vor, "damit Sie den Blick in die Landschaft genießen können – diesen typisch englischen Landschaftsgarten und die im ganz großen Stil gestaltete Landschaft des Gartenreiches."
Diese Landschaft, die Fürst Franz ab 1758 zur eigenen Freude, aber sicher auch zum Ergötzen seiner Untertanen erschaffen ließ, bietet fast zu viel des Guten. Die Blicke schweifen, finden auch den einen oder anderen Halt, aber es nimmt kein Ende.
Alleen, die auf Obelisken zulaufen, Waldschneisen, die auf Kirchtürme verweisen, die aber wiederum, erfährt man, jenseits der eigentlichen Parkanlage emporragen.
Wo eigentlich endet dieser Park? Grob gesagt reicht er von Großkühnau im Westen bis Rehsen im Osten, im Norden bildet die Elbe eine natürliche Grenze, in den Heidelandschaften des Südens verliert sich das Reich im Ungefähren.
Annette Scholtkas Kollege, der Gartenforscher Horst Woche, erklärt: "Das war damals der erste englische Landschaftsgarten auf dem europäischen Kontinent. In seiner Entstehungszeit maß er nahezu 700 Quadratkilometer. 142 davon sind heute als Weltkultur erbe anerkannt."
Hat sich Fürst Franz sein eigenes und, mit Verlaub, größenwahnsinniges England nachbilden wollen, ohne London natürlich?
Ganz einfach strukturiert war er nicht. Der älteste Sohn Fürst Leopolds II. wurde militärisch erzogen und Regimentschef im preußischen Regiment "Anhalt zu Fuß" in Halle.
Schluss mit Soldat!
Nach der Niederlage in der Schlacht von Kolin (1757 im Siebenjährigen Krieg) hatte Franz sein Trauma weg. Schluss mit Soldat! Dass Friedrich II. ihm eine Liebesheirat untersagte und die nachmalige Luisiums-Luise aufs Auge drückte, verdüsterte sein Gemüt zusätzlich.
Franz ging nach England, genoss Freiheit, Weltläufigkeit und große Gärten. Fortan schwelgte er in Idealwelten, die er, da nicht unvermögend, stracks umsetzte. Freund Erdmannsdorff sei Dank.
Das Gartenreich ist grandiose Spinnerei, die der Nachwelt ein Juwel beschert: ein Ort, um die Zeit zu vergessen, zumal im Herbst, wenn sich vieles malerisch dem schönen Ende zuneigt.
Der Vulkan wird übrigens erst nächstes Jahr wieder zur Explosion gebracht, am 27. April zum 251. Geburtstag der berühmten Mätresse Emma Hamilton, die Franz 1765 in Neapel kennengelernt hatte.