20.06.2017 Reise

Die Kunst des Nichtstuns

Von Pia Hoffmann
So schön kann Urlaub sein: Nichtstun am Strand mit türkisfarbenem Wasser und Palmen im Hintergrund –
die Malediven von ihrer besten Seite.
So schön kann Urlaub sein: Nichtstun am Strand mit türkisfarbenem Wasser und Palmen im Hintergrund – die Malediven von ihrer besten Seite. Fotoquelle: Pia Hoffmann

Aus Angst vor Langeweile scheuen sich viele vor Urlaub auf kleinen, abgeschiedenen Inseln. Dabei kann Entspannen ungeheuer spannend sein.

Ein kleines Häufchen Sand mitten im Indischen Ozean, rund tausend Kilometer von Sri Lanka entfernt. An der breitesten Stelle misst Kanifushi gerade mal 60 Meter. Zu erreichen ist das Eiland nördlich des Äquators nur mit dem Wasserflugzeug. Gut eine halbe Stunde dauert der Flug von der maledivischen Hauptstadt Malé über die türkisfarbene Welt der Atolle mit ihren mehr als tausend Koralleninseln, die von oben wie zuckerumrandete sattgrüne Farbsprengsel aussehen. Aber kann sich der Burnout-gefährdete Aktivurlauber aus Europa, der auch im Urlaub durch Großstädte hetzt, Sehenswürdigkeiten abhakt, Sportkurse absolviert und abends mit Hotelanimateuren Polonäse tanzt, auf wenigen Quadratmetern Sand wohlfühlen, ohne auf die Palme zu gehen?

Das Geheimnis erholsamen Insellebens lautet: nichts tun. Wirklich mal gar nichts. So wie der Einsiedlerkrebs, der so lange regungslos unter einer Muschel verharrt, bis die Strandspaziergänger weitergehen. Sobald der Urlauber das Prinzip der Gelassenheit verinnerlicht und ebenfalls bewegungslos stehenbleibt, tut sich Erstaunliches. Unter der leer geglaubten Schale ragen kleine, weiß-rosa Beinchen hervor und krabbeln mitsamt der Muschel davon, was beweist: Je weniger der Inselbewohner tut, umso mehr tut sich um ihn herum und umso mehr nimmt er wahr.

Keine Geräuschkulisse

Wer bei Sonnenuntergang ruhig am Strand liegt, kann tatsächlich den Flügelschlag der scheuen Flughunde hören, die über den Bäumen kreisen. "Das liegt daran, dass wir mitten im Ozean liegen", erklärt der General Manager des Atmosphere Resorts auf Kanifushi, John Bendtsen. "Normalerweise gibt es überall, wo Menschen sind, eine Geräuschkulisse. Hier nicht. Keine Autos, keine Züge, keine Polizeisirenen – nichts, was die natürliche Ruhe stört." Mit etwas Geduld lässt sich sogar beobachten, wie die putzigen, fledermausähnlichen Tiere auf der Suche nach Nektar ihre flauschigen Köpfchen in großen Tropenblüten versenken oder kopfüber in der Abendsonne schaukeln. Die Volleyballspieler, die weiter hinten am Strand ihren Ball nicht aus den Augen lassen, bemerken davon nichts.

Manchmal lohnt es sich auch, so lange still im Sand zu liegen, bis sich eine Krabbe an die Oberfläche buddelt, ein bunter Fisch ganz nah an den Strand kommt oder ein Gecko vorbeihuscht. Ein paarmal tief einatmen, und schon entfaltet sich der Duft von Strandgardenien, Orchideen, Lilien und Jasmin, in den sich nachmittags ein süßlicher Hauch von Frangipani mischt. Den Joggern, die mit Blick auf die Fitnessuhr schwitzend den Strand entlanghecheln, bleibt dieses Sinneserlebnis versagt.

Selbst zum Fisch werden

Sogar beim Tauchen intensiviert Nichtstun das Abenteuer, bestätigt Meeresbiologe Marco Millero von Dive & Sail Kanifushi. "Tauchen ist eine Art Meditation, bei der man sich auf die Atmung konzentriert und vom Ozean tragen lässt. Wenn Sie sich einfach ins Wasser fallen lassen und bewegungslos auf dem Meeresgrund sitzenbleiben, dauert es keine fünf Minuten, bis die Fische Sie als ihresgleichen akzeptieren und neugierig auf Sie zuschwimmen", erklärt er. "Wenn Sie den Fischen dagegen hinterherschwimmen und ständig umherpaddeln, verschrecken Sie die Tiere und sehen viel weniger." Das gilt auch fürs Schnorcheln. Über dem Korallenriff rund um Kanifushi genügt es völlig, sich auf der Meeresoberfläche treiben zu lassen. Wie Unterwasser-Konfetti ziehen bunte Anemonenfische, Doktorfische, Rochen und Papageifische von selbst vorbei. "Das Meerwasser hier ist reich an Plankton und Seegras und zieht Fische und Schildkröten an wie ein kostenloses Schlemmerbuffet", weiß Millero.

Doch es geht auch ohne lästige Tauch- oder Schnorchelausrüstung. Man muss noch nicht einmal nass werden, um die Unterwasserwelt zu bestaunen. Von der Insel Maadhoo im Süd-Malé-Atoll aus bringt Kapitän Ibrahim Waheed Urlauber täglich mit einem Halb-U-Boot zu den fischreichsten Riffs. Der obere Teil des knallroten Bootes bleibt im Trockenen; der Rumpf mit seinen großen Glasfenstern liegt mehr als zwei Meter tief unter Wasser. Mit an Bord ist die Meeresbiologin Lier Yeo, die gleich unterwegs alle Fragen beantwortet. Die vielen Fischarten hinterher selbst zu googeln wäre für Nichtstuer auch viel zu anstrengend.

Von oben unsichtbar liegt vor Maadhoo eines der wenigen Unterwasserrestaurants im Indischen Ozean. Über eine Wendeltreppe führt ein schmaler Schacht sechs Meter unter die Meeresoberfläche ins M6m (Minus 6 meters), wo an romantischen Zweiertischen exquisite Gerichte mit Hummer, Lachs und Oktopus serviert werden, während deren Artgenossen an gläsernen Panoramawänden vorbeischwimmen. Im Sommer 2016 war der komplette Restaurantkubus im Meer versenkt worden – wie ein riesiges Aquarium, nur dass diesmal die Menschen im Inneren sitzen und die Fische im offenen Meer eine freiwillige Unterwassershow darbieten. "Ich arbeite von Anfang an hier", erzählt Kellnerin Nadja Jazenku, "und doch gab es noch keinen einzigen Tag, an dem nicht ein Fisch vorbeikam, den ich vorher noch nie gesehen habe."

Hai unterm Bett

Auch die hölzernen Wind Villas des Ozen Resorts, die auf Stelzen ins Meer gebaut sind, haben teilweise gläserne Bodenplatten. Vom Himmelbett aus auf dem Meeresgrund Fische zu zählen hilft abends beim Einschlafen; ein Hai unterm Bett beschleunigt morgens das Aufstehen. Aber keine Sorge, selbst die Haie um Maadhoo scheinen das Prinzip des Nichtstuns zu respektieren. "Bei uns gibt es nur friedliche Haiarten", versichert Nathalie Böhmerle vom Ozen Dive Center. "Unsere Weißspitzen-Riffhaie sind harmlos und überhaupt nicht angriffslustig." Die Entspannung kann also selbst mit Hai unterm Bett problemlos weitergehen.

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