25.08.2015 Kultur

Die Nymphe der Reformation

von Tom Schwan
Verlockend, unerreichbar: Die "Ruhende Quellnymphe" war ein beliebtes Sujet in der Cranach-Werkstatt. Vater Lucas und Sohn Lucas machten ein Geschäft daraus.
Verlockend, unerreichbar: Die "Ruhende Quellnymphe" war ein beliebtes Sujet in der Cranach-Werkstatt. Vater Lucas und Sohn Lucas machten ein Geschäft daraus. Fotoquelle: Lucas Cranach, The National Museum of Art, Architecture and Design, Oslo; Tim Hufnagl; Stiftung Schloss Friedenstein Gotha – Herzogliches Museum; The Museum of Fine Arts, Houston (The Edith A. and Percy S. Straus Collection).

Lucas Cranach d. J. wurde lange unterschätzt. Warum nur? Seine Porträts sind oft große Klasse.

Sie malten ja nicht immer nur Martin Luther oder Philipp Melanchthon, den vogeldürren intellektuellen Kopf der Reformation. Nein, ihr Geld verdienten die Cranachs mit Darstellungen vom "nacketen Weyb", wie es in einer Abrechnung des Wittenberger Hofes von 1543 heißt. Auf solchen Bildern herrschte das Lustprinzip.

So wurde die nackte Quellnymphe in der Cranach-Werkstatt reichlich oft auf Buchenholz gebannt. Heute würde man von Fließbandarbeit sprechen, was aber übertrieben wäre. Auf einem "Cartellino" am Bildrand warnt die schöne kluge Frau auf Latein: "Ich bin die Nymphe des heiligen Quells, reiße mich nicht aus dem Schlaf, ich ruhe."

Feigenblatt der guten Sitte

Diese schriftliche Warnung diente wohl als Feigenblatt der guten Sitte, die natürlich auch in Wittenberg galt. Angucken ja, aber bloß keine falschen Hoffnungen, wo kämen wir denn da hin! Der alte Lucas Cranach war hin und weg ob so viel schlanker Gestalt und nackter Haut und der junge Lucas ebenso. Die Frage ist: Das Bild oben auf dieser Seite, hat es der Alte gemalt oder der Junge?

Die Unterschiede, auf die man seit dem 16. Jahrhundert erstaunlich wenig Augenmerk gelegt hat (der aus Kronach in Oberfranken stammende Alte, 1472–1553, war halt der Prinzipal und "Maler Luthers") werden seit einiger Zeit intensiver diskutiert.

Das liegt a) an einer über Wittenberg, Dessau und Oranienbaum-Wörlitz verstreuten Landesausstellung zum 500. Geburtstag von Lucas Cranach dem Jüngeren, b) an der sich langsam, aber sicher breitmachenden Erkenntnis, dass der Junge, 1515–1586, nicht nur Sohn, sondern konsequenter Weiterentwickler gewesen ist.

Melanchthon ist moderner und menschlicher

Sein Luther ist ein anderer als der des Vaters, was nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass Luther älter wurde. Sein Melanchthon ist ein sehr viel moderner und menschlicher wirkender Religionsideologe als die Ikonen-Gesichter, die der Vater schuf.

Und die "Nacketen", wie der Sohn sie malte, fallen eine Spur kesser, frischer, anmachender und lichterfüllter aus als die dem Geist des alten Hellas verpflichteten Darstellungen von Lucas dem Älteren.

Wobei, die Zutaten bleiben identisch. Als ob es ein Gesetz gegeben hätte, was alles genau zu einer mit offenen Augen schlafenden Nymphe gehört: Jagdpfeile (oder Liebespfeile) im Köcher, zwei Tauben nahebei (deren Gurren förmlich ins Ohr steigt), eine Felsenburg im Hintergrund sowie die Alibi-Andeutung einer (transparenten) Bedeckung von Bauch und Scham. Die Dunkelheit auf unserer Abbildung könnte auf den Alten verweisen; der Sohn ließ mehr Licht zu – oder wusste geschickter damit umzugehen.

Vater Lucas Cranach malte das erste Porträt Martin Luthers, sein Sohn Lucas das letzte. Entwicklung von einem zum anderen Bild: null. So dachte man. Kontinuität sei das vorrangige Ziel des Jüngeren gewesen. In bildungsbürgerlichen Magazinen ("Westermanns Monatshefte") stand zu lesen, Lucas Cranach dem Jüngeren habe stets "etwas Mattes und Verkrampftes" angehaftet.

Das war, man möchte sagen: über Jahrhunderte die vorherrschende Ansicht. Sie muss revidiert werden. Die Landesausstellung in Sachsen-Anhalt gibt dazu Anlass und Anschauung.

Nicht dass es eine Revolution wäre, die der junge Cranach angezettelt hätte, er fühlte sich durchaus der Tradition und der Werkstattphilosophie seines Vaters (der Jüngere durfte den Betrieb im Alter von 22 Jahren übernehmen) verpflichtet. Doch leistete der Nicht-Revolutionär einen Beitrag zur Evolution der Porträtmalerei. Es war ein anderes Hinschauen, das zu einem neuen Umgang mit dem Licht führte. Es waren (möglicherweise) Weiterentwicklungen in der Grundierung und bei den Farben, die zu helleren, leuchtenderen und präziseren Tönen führten. Es war ein anderes Interesse am Menschen, das in seinen Bildern manch psychologisches Moment jenseits des Erscheinungsbildes heraustreten lässt. Die Kunstgeschichte hat darin seltsamerweise lange Zeit ein Nachlassen der Qualität gegenüber dem Vater sehen wollen.

Tatsächlich sind Blick und malerische Umsetzung beim Jungen genauer und gekonnter, ohne dass er zum Vivisektor der Porträtierten geworden wäre. Die Parallelporträts von Luther und Melanchthon aus dem Jahr 1559 werden inzwischen als Meisterwerke gesehen.

Humor hatte er offenbar auch. Sein Gemälde "Die Tischrunde Christi" versammelt eine Schar Zeitgenossen. Martin Luther (als Junker Jörg verkleidet) wendet sich vom Tisch des Herrn ab, um einen Becher Wein entgegenzunehmen. Die Drucker Lufft, Rau und Vogel sitzen neben ihm. Im Hintergrund eine Felsenburg, wie sie in den Elbauen zu finden war.