Spielen

Freiheit für Kinder, das war einmal

Von Detlef Hartlap
Hauptsache, sauber: Ob Kinder, die hier spielen, Fantasie entwickeln?
Hauptsache, sauber: Ob Kinder, die hier spielen, Fantasie entwickeln? Fotoquelle: Volodymyr Kyrylyuk, photophonie/Fotolia

Alles so schön sicher hier: vom Spielen in Gettos, von Paradiesen und dem Ende der Unschuld.

Das Spiel ging so: den zerfledderten alten Lastwagenreifen über das Trümmergrundstück rollen, durch eine tiefe Kuhle und über Steine, vorbei an einer toten Katze, die kurz angetatscht werden musste, das war die Regel. Dann weiter bis zur Mauer, auf die mit roter Kreide ein Fußballtor gemalt war. Das Tor war das Ziel.

Richtig Zoff gab es nie

Wer's am schnellsten schaffte, hatte gewonnen. Es ging um die Ehre. Ehre unter Jungs, sonst nichts. Aber das war viel. Wer am schnellsten war, entschied keine Stoppuhr; die gab es nicht. Die Konkurrenten zählten die Sekunden, die einen zählten schneller, die anderen langsamer. Aber richtig Zoff gab es deswegen nie, höchstens dass mal gefoppt wurde oder gemault, wenn's hoch kam.

Kinderspiel in den Fünfzigerund Sechzigerjahren. Heute fügt man, als ob das Pflicht wäre, hinzu: "... des vorigen Jahrhunderts."

Im Winter wurde in der Kuhle oft ein Feuerchen gemacht. Das war zum Aufwärmen, aber gleichzeitig auch ein Spiel. Nach Hause gehen und rumhocken gab's nicht. Nicht bevor es stockduster geworden war.

Unverantwortlich das alles. Aus heutiger Sicht. Heute bringen Mama oder Papa das Kind mit dem Auto zur Schule und holen es auch wieder ab. Dass Grundschüler mit dem Fahrrad kommen, wird von der Schule strikt abgelehnt und selbst auf vielen Gymnasien nicht gern gesehen. Verabredungen am Nachmittag? Mama fährt. Fußballtraining gegen Abend oder Karate in der Turnhalle? Papa fährt. Denn auch angehende Superhelden und kleine Messis sind nirgendwo sicher. Sie müssen beschützt, behütet, gefahren werden.

Warum? Die Umwelt ist immer sicherer geworden, das freie Kinderspiel dagegen immer seltener. Selbstvergessenes Streunen unter Brücken, das neugierige Auskundschaften von verlassenem Fabrikgelände mit Graffiti an den Wänden, das Herumbolzen auf Hinterhöfen – all das wird misstrauisch beäugt, verhindert und in aufgeräumte Bahnen gelenkt. Wo kein Spiel, da kein Unfug.

Diktatur der Funktion

Kindheit und Jugend drohen zu einem Vorbereitungslehrgang für den dressierten Funktionserwachsenen zu verflachen. Einer, von dem man sagen kann: lernt gut, lernt schnell, bleibt vielseitig und ist immer bereit, sich mit ganzer Kraft in vorübergehende Jobs zu stürzen, ohne je Spuren zu hinterlassen. Aber immer rational und ordentlich.

Seltsam, unser modernes abwehrendes Verhältnis zum Spiel findet sich schon bei den großen Denkern des Altertums. Platon verachtete das Spielen als "Gipfel der Illusion"; Aristoteles sah im Spiel nichts als eine kurze "Seelenentspannung" von der eigentlichen Arbeit.

Erst Nietzsche betrieb (in "Also sprach Zarathustra") eine Umkehrung unserer heutigen, scheinbar so seriösen Werteskala.

Den niedrigsten Rang nehmen darin diejenigen ein, die sich der Last der fremdbestimmten Pflichten und Traditionen unterwerfen. Darüber stehen diejenigen, die dagegen aufbegehren, wenigstens ein wenig. Zuoberst aber findet sich jene Menschlichkeit, wie sie das spielende und im Spiel selbstvergessene Kind praktiziert – kreativ und unschuldig.

Der Mensch ist wie alle Säugetiere zum Spielen geboren. Man kann das bei Delfinen wie bei Ratten beobachten, an den frühsteinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux ablesen und an moderner Fußballverrücktheit bestaunen.

Der liebste Wahn unserer Zeit

Aber sie spielen doch!, wird manche geplagte Mutter rufen, sie spielen Tag und Nacht, ich bekomme sie von den vermaledeiten Gerätschaften gar nicht mehr weg ...

Stimmt. Kinderspiel existiert. Es hat sich in den Binnenbereich verlagert. Zu Hause sind Handy, Tablet, Laptop, Playstation etc. fortwährend im Einsatz. Es wird öffentlich kommuniziert, öffentlich übel nachgeredet, öffentlich das Innerste nach außen gekehrt. Ist das Spiel?

Privat bleibt nichts. Was immer gepostet wird, was runtergeladen und wozu aufgerufen wird, andernorts verfolgt man es mit Interesse und saugt es kaltlächelnd ab.

Was dem Vampir das Blut schöner Jungfrauen, sind Facebook und Konsorten die Daten von Kindern und Jugendlichen. Eine Zielgruppe mit Perspektive. Im Reich des Digitalen ist niemand eine Insel. Niemand scheint Wert darauf zu legen, eine zu sein.

Die Eltern bewahren sie davor nicht

Dass im Internet das Zeitalter des unschuldigen Spielens an ein Ende gelangt ist, lässt sich Kindern kaum vermitteln. Ihre Augen strahlen bei jedem neuen Gerät. Die Eltern bewahren sie davor nicht. Sie wollen ihre Ruhe haben oder sind derselben Sucht unterlegen. Stundenlange Daddelei. Die Realität ausklinken, abtauchen in die Digitalwelt.

Die neuen Spielarten korrespondieren mit der Verödung des Außenbereichs. Gleichförmige Wohnwelten mit leblosen Straßen und hingezirkelten Spielplätzen. Nichts verlockt hier zum Toben. Vermutlich ist es ohnehin untersagt.

Doch nur im intensiven, ungebundenen Spiel sind echte Erfahrungen möglich. Echte Siege, echte Niederlagen, echte Kameradschaft. Nur dort entsteht Freundschaft, die dieses Wort verdient.

Die Abkehr vom Draußenspielen hat sich analog zur Entwicklung des Verkehrs und zu der baulichen Verunstaltung der Städte vollzogen. Alte Stadtteile wurden für Durchgangsstraßen geschreddert. Wo Kinder Freiflächen zum Spielen hatten, werden sie in umzäunte Bolzplätze gezwängt, die der Tristesse angrenzender Wohnblocks entsprechen.

Der Spielplatz als Getto. Entdeckerfreude, käme sie auf, würde als Risiko bewertet, und Risikovermeidung ist der liebste Wahn unserer Tage. Wie im digitalen Spiel können die Kinder auf diesen Spielplätzen niemals wirklich scheitern. Das zu lernen ist aber eine Voraussetzung späterer Reife.

Auf Entwicklung folgt Gegenentwicklung

Auf jede Entwicklung folgt eine Gegenentwicklung. Aus New York, aus Norwegen und Schweden kommt die Kunde von der Freigabe neuer wilder, riesiger und vielgestaltiger Spielareale mit zurückhaltender Beaufsichtigung. Der bekannteste "Playground" findet sich in Nordwales, "The Land" genannt und mehr als acht Hektar groß.

So weit sind wir in Deutschland nicht. Hier werden Kindergeburtstage gern in stickige, überlaute und sündhaft teure Großspielhallen verlegt, sogenannte "Kinderparadiese", die wie ein Auswurf der Hölle anmuten.

Anschließend wird am Laptop weitergedaddelt. Man nennt es Spiel.

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