07.06.2016 Lebensart

"Hab ich dir davon erzählt?"

Landleben als Freizeit- und Genusszone: Die Ansichten darüber, was als "Naturerlebnis" gilt, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt.
Landleben als Freizeit- und Genusszone: Die Ansichten darüber, was als "Naturerlebnis" gilt, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Fotoquelle: mauritius images/Lumi Images/Secen-Pupeter

Das kann ja nur ein Irrtum sein: Das wirkliche Landleben sieht ganz anders aus als auf den Illustriertenfotos.

Was zuallererst auffällt, ist der Unterschied. Zwischen dem echten Landleben und dem Land in Illus trierten, deren Titel mit "Land" oder "Country" beginnen, liegt ein Abgrund.

Wollte man die Differenz von Land und Land beziffern, käme man auf 100 Prozent. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Echtem Landleben begegnen wir bei Sue Hubbell, Jahrgang 1935, einer schreibenden Bienenzüchterin. Sie hat sich vor Jahr und Tag in den Ozarks niedergelassen, einem waldreichen Mittelgebirge im US-Bundesstaat Missouri. Anfangs hatte sie ihren Mann dabei, aber der hielt es dort nicht aus.

Seither hat Sue, von Haus aus Biologin, solche Erlebnisse exklusiv: "Als ich gestern Abend im Bett lag und las, spürte ich ein kaum vernehmbares Plopp neben mir. Ich spähte über meine Brille hinweg und erblickte einen stattlichen, dicken Grauen Laubfrosch, der mich prüfend ansah. Wir musterten einander eine ganze Weile, der Frosch sichtlich gelassen, dann nahm ich ihn auf, trug ihn zur Hintertür hinaus und setzte ihn in den Hickorybaum."

Sue kümmert sich um 300 Bienenstöcke, dank derer sie ihr Auskommen hat, um einen Chevy-Pick-up, Jahrgang 1954, und um alles, was sonst anfällt: "Heute saß ich den ganzen Nachmittag auf meinem Scheunendach, um die Firsthaube anzubringen, eine Reihe doppelt überlappender Schindeln, die die Fuge zwischen beiden Dachschrägen abdecken. Dort oben nicht glücklich zu sein, wäre schwierig gewesen. Die Herbstwanderung der Monarchfalter hatte eingesetzt, hinreißender orange-schwarzer Geschöpfe; viele flogen an mir vorbei ..."

Wie anders sieht das Leben auf dem Lande deutscher Provenienz aus? Schenkt man den durchweg großen Fotos in Magazinen wie "Landliebe", "Landlust" und "Landsucht" (oder gibt's das etwa gar nicht?) Glauben, dann haben wir es mit einem Leben ohne Autos, ohne Computer, ohne Warenhäuser und ohne Flüchtlinge zu tun.

Jeder Baumarktbesuch führt hier zur Gemütlichkeit eines Showrooms, jeder Obstbaum zu Regalen voller Einweckgläser.

Die Fenster voller Wasserpfeifer

In der Epoche totaler Digitalisierung nimmt die Sehnsucht nach dem Lande die Rolle eines Arztromans ein – oder eines Märchens, in dem Frösche geküsst werden, damit sie sich in Prinzen verwandeln und nicht im Hickorybaum verschwinden. Land dient nicht als Land, sondern als Weltflucht. Die deutsche Land-Leserin käme einem Anfall nahe, wenn sie, etwa bei der Vorbereitung eines picobello Grill-Abends, ein Wasserpfeifer-Erlebnis wie Sue Hubbell hätte.

Sue zündete im Wohnraum Kerzen an und: "Meine drei raumhohen Fenster waren voller Frösche. Es waren Hunderte. Wasserpfeifer. Zollgroße Wesen mit hauchdünnen Schwimmhäuten und fingerartigen Zehen, mit deren Saugnäpfen sie an den glatten Flächen hafteten. Dass sie vom Licht angezogen werden, war mir neu."

Das Land der deutschen Vorort- und Kleinstadtreviere gleicht eher einem Reservoir des Clea nen, es ist das Gute schlechthin. Der Status ländlicher Gebiete lässt sich an der Entschlossenheit der Menschen ablesen, immer dann aufs Land zu wechseln, wenn sie die Arbeit nicht in der Stadt festhält. Ungeachtet dessen, dass sie geborene Städter sind, sprechen viele Menschen davon, aufs Land "zurückzukehren". Sie preisen die "Natürlichkeit", auch wenn sich schwerlich eine Spur unberührter Natur finden lässt.

Wenn Sue Hubbell den Chevy in die Werkstatt bringt, ahnt sie, dass es kein Ersatzteil gibt, und sie weiß, was folgt: "Hab ich dir davon mal erzählt?", wird der Werkstattbesitzer fragen und lange, lange erzählen. Und sie wird lange, lange zuhören. Das Leben auf dem Lande. Wenn es echt ist, ist es so ganz anders als in den Illustrierten.