Satire von Wolfgang Menge

"Das Millionenspiel": 50 Jahre nach dem TV-Skandal – Voyeurismus hat keine Grenzen

von Jens Szameit

Ein Kandidat rennt beim Kampf um einen Millionengewinn in einer Spielshow um sein Leben. Vor 50 Jahren entlarvte Wolfgang Menge mit der beißenden Satire nicht nur den Voyeurismus seiner Zeit, er sah auch eine Reihe von Fehlentwicklungen im Unterhaltungsfernsehen voraus.

Reality-Show bis der Notarzt kommt – im September erst war dieses Prinzip beim privaten Branchenführer RTL in Vollendung zu erleben. Da ließen zwei Teilnehmerinnen beim "Sommerhaus der Stars" ihre mit verbundenen Augen irrlichternden Lebenspartner so lange mit (eigentlich allerdings nicht besonders harten) Keulen zuschlagen, bis einer bewusstlos zu Boden sank. "Ich weiß ja nicht, wie dringend ihr 50.000 Euro braucht!", fauchte die eine in Richtung der Krankenhausaufenthaltsverursacher und bot an, ihnen die Gewinnsumme zu überweisen, "wenn ihr dafür meinen Mann am Leben lasst". – "Tut uns leid. Wir mussten gewinnen", warb die Gegenseite um Verständnis.

Der Kluft ist schmal geworden zwischen dem, was sich im Hauptabendprogramm zweideutig als "Reality" manifestiert, und dem, das auf den Tag genau vor 50 Jahren als ultima ratio einer auf fortlaufenden Tabubruch getrimmten Unterhaltungsindustrie formuliert wurde. 1970 – da gab es noch kein RTL und kein "Sommerhaus der Stars", es gab nur ARD und ZDF und das visionäre Genie des Autors Wolfang Menge. Sein "Millionenspiel" hat umgehend Einzug gehalten in die Geschichte der großen deutschen Fernsehskandale. Zwar kommt im vom WDR produzierten Fernsehspiel niemand zu Tode. Doch es genügte schon der Eindruck als ob.

Die Täuschung wurde allerdings auch mit absurder Hingabe eingefädelt. "Wir begrüßen Sie zum letzten Spieltag des 'Millionenspiels'", wurden die WDR-Zuschauer am Abend des 18. Oktober 1970 von einer Fernsehansagerin eingelullt: "Sollte der Kandidat vorzeitig den Tod finden, so erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen beliebten Künstlern."

Wer an der Stelle noch nicht den Satirebraten roch, der tat es wohl auch in den darauffolgenden gut 90 Minuten nicht. Der kaufte den Machern um Regisseur Tim Toelle ab, dass da ein braver Mann aus Leverkusen mit Namen Bernhard Lotz (Jörg Pleva) seit fast einer Woche durch die Republik flieht im verzweifelten Kampf um einen Hauptgewinn von einer Million Mark. Es ist ein Spiel auf Leben und Tod, denn der Herr Lotz wird verfolgt von einer "Köhler-Bande", die den Auftrag hat, ihn aufzuspüren und zu erschießen.

Dieter Hallervorden verfolgte den Kandidaten

In der Rolle des Chef-Verfolgers: ein gewisser Dieter Hallervorden, der wenige Jahre später als "Didi" in einer Straßenfegersketchshow "eine Flasche Pommes Frites" bestellte. Als "Millionenspiel"-Moderator trat Dieter Thomas Heck unter dem Pseudonym Thilo Uhlenhorst in Erscheinung. In demselben jovial-schnarrenden Duktus, in dem er sonst die "Hitparade" moderierte, rühmt er hier "brave Samariter", die dem Todesshow-Kandidaten bei der Flucht behilflich sind. O-Töne von der kamerabegleiteten Flucht durchs Land sammelten die Sportreporter Heribert Faßbender und Arnim Basche ein. Und zwischendurch warben schrille Clips für Anti-Baby-Spritzen, Leichen-Make-Up und mordsmäßige Messersets. Das alles beim – freilich fiktiven – Privatsender TETV.

Weit weg war man damals noch von der Quotenhatz, dem Kampf um Marktanteile und Werbebudgets, der heute zwischen Dschungelcamp und Palmen-Hotel zu einem immer greller ausgeleuchteten Verrohungsvoyeurismus führt. Wolfang Menge, der den Deutschen noch das Ekel Alfred schenken sollte ("Ein Herz und eine Seele", 1973-76) und 2012 verstarb, hat das alles kommen sehen – zumindest im Groben: "Die Hysterie wird nicht zu stoppen sein", prophezeite er im Interview mit der "Frankfurter Rundschau": "Es wird irgendwann Menschenjagden geben, zunächst vielleicht nur mit Platzpatronen."

Tatsächlich standen nach Ausstrahlung des "Millionenspiels" in der Zuschauerredaktion des WDR die Telefone nicht still, auch wurden Beschwerdebriefe verfasst bis hin zur Gewaltandrohung. Mancher wollte die Macher in die "Klapsmühle" einweisen lassen, ein anderer ihnen "sehr gründlich die Fresse polieren und die Zähne einschlagen", eventuell aber auch lieber gleich vor ein "MG" stellen lassen.

Noch verstörender waren nur die Reaktionen jener Zuseher, die weder verstanden, dass sie einen fiktiven Film gesehen hatten noch was an dem Gezeigten verwerflich sein soll. Rund 40 Personen bewarben sich nach offizieller Zählung als Kandidaten für die nächste Ausgabe des "Millionenspiels", einige bei Dieter Thomas Heck persönlich. Der erinnerte sich: "Es war erschütternd, zu lesen, wie eine Frau anbot, ihren Mann in den Tod zu schicken."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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