Leningrad - Stimmen einer belagerten Stadt
05.02.2024 • 23:35 - 01:05 Uhr
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Originaltitel
Leningrad - Stimmen einer belagerten Stadt
Produktionsland
D
Produktionsdatum
2024
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Das Grauen dauerte 872 Tage

Von Wilfried Geldner

Es war eines der größten Massenverbrechen der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Die Belagerung von Leningrad, bei der etwa 1,2 Millionen Menschen vor allem durch Hunger starben, dauerte 872 Tage. Das Grauen wurde hier wie dort lange Zeit verschwiegen. Das Erste wiederholt nun die sehenswerte Dokumentation.

Die Belagerung Leningrads war eines der größten Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Zunächst sollte die Stadt an der Newa auf Wunsch Hitlers dem Erdboden gleich gemacht werden, nach Rückschlägen der Armee im Osten verlegte man sich jedoch auf eine ausdauernde Belagerung der Stadt, die ausgehungert werden sollte. Etwa 1,2 Millionen Einwohner kamen in den 872 Tagen der Belagerung vom 08. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 ums Leben.

Im Kompilationsfilm des Grimme-Preisträgers Artem Demenok ("Moskau 1941 – Stimmen am Abgrund") kommen (vor allem) Tagebuchschreiberinnen zu Wort, die während der Blockade ihre Erlebnisse aufschrieben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. "ARD History: Leningrad – Stimmen einer belagerten Stadt" ist ein erschütterndes Film-Denkmal, das nicht wenige Parallelen zur Gegenwart zeitigt. Die Dokumentation wird nun im Ersten gezeigt, sie lief bereits im Januar auf ARTE.

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Poesie, Kanonendonner und Marschmusik

Lange Zeit sollte die Stimme derer, die die schreckliche Leningrader Blockade durch die deutsche Wehrmacht durchlitten, niemand hören. Auf russischer Seite wurden vor allem Heldenlieder gesungen, für eine vor Hunger sterbende Bevölkerung war da kaum Platz. So blieben die Tagebücher und damit die Stimmen der Überlebenden und Toten lange verschlossen. In Deutschland trug erst die zweite Wehrmachtsausstellung von 2001 zur Schulderkenntnis bei, bis dorthin war die Belagerung Leningrads in der allgemeinen Kriegsschuld aufgegangen, teils aber auch hinter dem Holocaust verborgen geblieben.

Wenn eine 14-jährige Schülerin von gegessenen Katzen und gar von verschwundenen Nachbarskindern spricht, stockt einem auch nach inzwischen vergangenen 80 Jahren der Atem. Andere wieder, wie etwa die Schriftstellerin Olga Bergholz, versuchen sich mit Zynismus gegen die Katastrophe zu wehren. Sie beklagt die Bomben auf Lebensmittellager, von denen die Deutschen wohl wussten, und schimpft: "Wie kann man sich so in die Scheiße reiten?" Durchhaltepathos kritisiert sie stöhnend: "Warum belügen wir uns so vor dem Untergang?"

"Es gibt keine Liebe als männlichen Schutz"

Die Leiterin eines Marionettentheaters hingegen knüpft sich gleich den Genossen Stalin vor und antwortet auf dessen Androhung, die Angreifer zu zermahlen: "Wir werden von Stalin zermahlt." Hinterher ist man stets klüger, und nicht zuletzt setzten die Deutschen ja vor den Bombardements von 1941 auch rosa Flugblätter ein, mit der Botschaft: "Wir werden nicht bombardieren!" Da krachte es aber schon überall, zahllose Bomben schlugen in Leningrader Häusern ein, die von den Genossenen versprochene Abwehr versagt, und die Menschen gewöhnten sich an die Leichen.

Manchmal bekommen die Männer in den Tagebüchern ihr Fett weg. "Es gibt keine Liebe als männlichen Schutz", so heißt es, "der Mann denkt mehr an sich selbst als an eine Frau. Es gibt keine Ritter." Kein Licht, keine Heizung, die Läden sind leer. Überall liegen Berge von Leichen. Leningrad in Eis und Schnee: "Gleichzeitig kam mir die Stadt nie so schön vor wie in diesen Tagen." Lautlos liege sie da. "Die Bäume im Schnee und die Ufer der Newa mit den festgefrorenen Schiffen." Aber eben auch: "Särge, Särge – Leichen, Leichen".

"Die Blockade meiner Stadt Leningrad ist zu Ende"

Viel Poesie ist drin in diesen Tagebüchern, die mit den Archivaufnahmen von damals korrespondieren. Fast möchte man sie wohltuend nennen gegenüber dem wiederkehrenden Kanonendonner und der dröhnenden Marschmusik der deutschen Wochenschau, die etwas zu häufig dazwischen geschnitten wird. Eher hilflos wirkt da ein später gefallener deutscher Unteroffizier, der in seinen Aufzeichnungen die grausame Belagerung mitfühlend beklagt.

Es gibt dann Evakuierungsversuche, einen Frühling im Kriegsjahr 1942, der auch schon erste Hoffnungen mit sich bringt – und am Ende ein krachendes Feuerwerk am nächtlichen Himmel. "Die Blockade meiner Stadt Leningrad ist zu Ende", schreibt die Marionettenfrau. 324 Geschütze feuern gleichzeitig 24 Salven ab. Die Blockade wird nun für lange Zeit vergessen sein.

ARD History: Leningrad – Stimmen einer belagerten Stadt – Mo. 05.02. – ARD: 23.35 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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