Zwei gegensätzliche Ermittlerinnen, zwei rätselhafte Morde und ein Rückblick auf die bewegten 80er-Jahre: Der neu aufgestellte Schweizer "Tatort" aus Zürich startet hochambitioniert und ereignisreich. Passender Titel der ersten Folge: "Züri brännt".
"Züri brännt" lautet ein bis heute gängiger Slogan, der die Stimmung in der größten Schweizer Stadt vor 40 Jahren wohl treffend beschreibt. Damals, 1980, zeigte sich Zürich weitaus weniger gediegen als heute. Bei den berühmten Opernhauskrawallen gerieten Jugendliche und die Polizei brutal aneinander; es folgte ein Jahrzehnt des Aufruhrs und des Kampfes für mehr Freiräume und Solidarität. Immer wieder forderten linke Gruppen zu diesem Zweck das staatliche Gewaltmonopol heraus, es flogen Pflastersteine, Autos brannten, Razzien folgten. Mit Originalaufnahmen jener bewegten 80er-Jahre beginnt die ebenfalls "Züri brännt" betitelte Auftaktepisode des neu aufgestellten Schweizer "Tatorts", der Luzern hinter sich gelassen hat und von nun an zwei grundverschiedene Kommissarinnen in der Metropole am Zürichsee ermitteln lässt. Und das von Beginn an atemlos und hochambitioniert.
Von Carol Schuler und Anna Pieri Zuercher glaubwürdig verkörpert, muss sich das neue Duo gleich unter harten Umständen aneinander gewöhnen: Tessa Ott (Schuler) beginnt ihren Job als Profilerin direkt mit einer Brandleiche samt Kopfschuss, die am See entdeckt wird. Skeptisch beäugt wird sie dabei von der französisch-schweizerischen Ermittlerin Isabelle Granjean (Zuercher), die insgeheim glaubt, dass die Neue aus gutem Zürcher Hause die Stelle nur durch die Kontakte ihrer bekannten Familie erhalten hat. Der Klassengegensatz zwischen der Unerfahrenen, die scheinbar aufwandslos die besten Positionen ergattert, und der Arbeitertochter, die sich mühsam hocharbeiten musste, steht beim neuen "Tatort"-Team von Anfang an im Raum. Ein Konflikt, der sich bereits bei der Premiere in expliziten Anschuldigungen entlädt. Harmonisch beginnt die Arbeit der beiden Frauen, die mit Staatsanwältin Anita Wegenast (Rachel Braunschweig) gar ein weibliches Trio und damit ein "Tatort"-Novum bilden, also keineswegs.
Respekt verschafft sich Ott, deren Ausbildung zunächst als "Kaffeesatzlesen" verunglimpft wird, durch ihr Analysevermögen. Sie erkennt etwa anhand eines Tattoos, dass das Opfer Buddhist war, zudem depressiv und an Lungenkrebs erkrankt. Doch es kommt noch dicker: Als beim Apéro zu Ehren des kurz vor der Pension stehenden Polizeikommandanten Peter Herzog (Roland Koch) selbiger ein Paket mit einem Totenkopf überreicht bekommt, wird das Mysterium größer und größer. Es handelt sich um den Kopf einer jungen Frau, die vor 40 Jahren spurlos verschwand: Eva (Julia Buchmann) wurde augenscheinlich erschlagen, stand in Verbindung mit dem ersten Opfer – und war in der linken Bewegung der 80er-Jahre als verdeckte Ermittlerin aktiv. Die Zuschauer erfahren, dass in der Schweiz Mord tatsächlich verjähren kann. Gibt es wirklich ein "Recht auf Vergessen", wie es an einer Stelle heißt?
Das ermittlerische Chaos, das die junge Regisseurin Viviane Andereggen in außergewöhnlichen Kameraeinstellungen und unkonventioneller Bildsprache inszeniert, scheint sich langsam zu entwirren: Alle Verbindungen beider Opfer führen zurück in die besagten anarchischen Jahre des Aufstandes, in denen sich die Jugend gegen das Leben der Alten in Angepasstheit auflehnte. Illustriert wird diese zweite Zeitebene immer wieder mit bemerkenswertem Archivmaterial und bisweilen horroresk anmutenden Einbrüchen der Vergangenheit in die Gegenwart – etwa in Gestalt des blutüberströmten Opfers. Kennern werden auch andeutungsreiche Details auffallen, etwa Manni Manners kritischer Songklassiker "Dene wos guet geit" und Fritz Zorns autobiografischer Roman "Mars", der zum Kultbuch der damaligen Bewegung avancierte, weil der früh verstorbene Autor darin die Belastung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft als Auslöser für seine Krebserkrankung beschrieb.
Im Zentrum stehen aber die Erinnerungen der alternden Protagonisten der Bewegung, die bisweilen historisch-politisch sehr informativ, manchmal aber auch recht klischeehaft daherkommen. Da ist die über die Maßen "frech" ins Drehbuch geschriebene Punklady Barbara Dietschi (Karin Pfammatter), die mit den Details zur damaligen RAF-nahen "Aktionsgruppe Rote Fabrik" zwar hinterm Berg hält, der Kommissarin aber von der Bühne Falcos "Drah di ned um" entgegenschleudert und ihre Ansichten deutlich macht.
Da ist der ehemalige Anarchist Simon Untersander (Michael Goldberg), der nun zum Chefredakteur einer großen Zürcher Zeitung aufgestiegen ist und eigenständig ermittelt. Und da ist der beste Freund von Ermittlerin Ott, der sich als "Chronist der Bewegung" bezeichnet, mit der Toten einst ein Verhältnis hatte und nach dem Fund ihrer Leiche nun in die alte Heroinsucht zurückfällt. Als "Bullenschwein" beschimpft dieser Charlie (Peter Jecklin) seine Freundin und zeigt – ebenso wie der gesamte "Tatort" -, dass alte Wunden das gegenwärtige Privatleben gehörig aufwühlen können.
Auf der Gegenseite nähert sich der mitreißende, an manchen Stellen aber etwas fahrige Krimi immer wieder den Berichten des scheidenden Polizeichefs, dessen Position Granjean bald übernehmen soll: "Gewalt und Misstrauen auf beiden Seiten", analysiert er, der damals viele Razzien und Einsätze leitete. "Pflastersteine auf Bullenschweine", habe es damals geheißen, aber auch die Staatsseite sei nicht gewappnet gewesen: "Wir wurden von einem Tag auf den anderen in eine Kampfmontur gesteckt. Schon möglich, dass der ein oder andere ein bisschen überfordert war." Zwar fragt Ermittlerin Ott verwundert: "Was ist das für eine Zeit gewesen?" – doch auch die zuletzt geführten Debatten um Polizeigewalt spiegeln sich im "Tatort" reflektiert und vielschichtig.
Und nicht nur das: "Da sich Geschichte wiederholt, wiederholen sich auch die Themen aus den 80-ern. Die Forderungen nach günstigerem Wohn- und Freiraum, Kritik am Überwachungsstaat etc, haben weder an Bedeutung noch an Aktualität verloren", merkt Regisseurin Andereggen, die auch den zweiten Fall der Zürcherinnen inszeniert, zur zeitgemäßen Thematik ihres Films an. Dass in der Schweiz, einem Land, in dem das allgemeine Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt wurde, nun ein "Tatort" produziert wird, in dem zwei Frauen samt einer Staatsanwältin ermitteln, wirkt angesichts dieser politischen Schlagkraft – auch nach Jahren männlicher Dominanz – dann glücklicherweise fast schon wie eine Selbstverständlichkeit.
Tatort: Züri brännt – So. 18.10. – ARD: 20.15 Uhr