01.09.2015 prisma-Serie

Wer 100 werden will, muss arbeiten

Tanze mit mir in den Abend: Das Leben jenseits des Rentenalters verlangt Aktivität.
Tanze mit mir in den Abend: Das Leben jenseits des Rentenalters verlangt Aktivität. Fotoquelle: David Sacks/Stone Sub/Getty Images

Das Alter ist unsere Zukunft? Für die "Blauen Zonen" dieser Erde gilt das längst. Start zu einer neuen prisma-Serie.

Eins ist anders geworden mit den älteren Leuten, die wir in diesem Artikel nicht "Best Ager" nennen, weil das ein verlogener Begriff ist. Gegenüber früheren Generationen haben es sich die Alten von heute abgewöhnt zu sagen: "Ich bin zu alt dafür."

Sie wissen, dass sie nicht im besten Alter sind, aber sie wissen doch, dass sie noch eine Menge draufhaben. Surfen? Wasserskifahren? Bergsteigen? "Kein Problem!" Nein, genau das sagen sie gewiss nicht. Sie sind ja nicht blöd.

Aber sie sagen: "Das würde mich schon reizen, und wenn ich's versuche, mache ich das mit Bedacht und der Erfahrung meiner Jahre. Gefühlt bin ich Mitte fünfzig, aber Gefühle können miese Berater sein ..."

Munter, unternehmungslustig und spendabel

Die Altenrepublik Deutschland ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was eine große Koalition von Vogelguckern (= Zukunftsforschern) und Werbern in den 90er Jahren prophezeit hatte: Sie ist munter, unternehmungslustig und spendabel.

Der Satz "Ich bin zu alt dafür" ist in Vergessenheit geraten. Stattdessen hört man, oft mit einem schiefen Grinsen versehen: "Man weiß ja nicht, wie lange noch ..."

Vermutlich sehr lange. Mädchen, die heute zur Welt kommen, dürfen (statistisch) mit einer Lebenserwartung von 82 Jahren rechnen, Jungen mit 77 Jahren.

Im Vergleich zu anderen Weltgegenden ist das noch wenig. 2013 berichtete prisma von den Bewohnern der griechischen Sporadeninsel Ikaria, die, wie die US-Zeitschrift "National Geographic" herausfand, auffallend häufig 100 Jahre und älter werden.

Einer der Rechercheure von "National Geographic", Dan Buettner (55), hat sich in der Zwischenzeit zu einer Art Altersguru entwickelt. Er vertritt die Ansicht: "100 Jahre sind ohne Weiteres erreichbar. Beispiele gibt es genug."

Bevor wir uns den Beispielen zuwenden, ist es interessant zu erfahren, was laut Buettner eher geringen Einfluss aufs Altwerden hat.

Erstens, völlig nebensächlich sei es, ob man Gewichte stemme, Marathon laufe, Biofleisch esse oder immerzu nur Tofu.

Zweitens sei es egal, ob man sich mit Diätplänen und deren Einhaltung abmühe. "Zeigen Sie mir eine Diät, die wirklich funktionieren würde", sagt Buettner.

Auch sei Altwerden keine Frage eiserner Disziplin. Der Mensch ist auf Jugend programmiert, auf Zeugungserfolg. Seine Gene helfen ihm, die Kindheit zu überstehen, danach die Elternschaft und obendrein noch eine Großeltern-Zeit als Zugabe.

Aber: "Der 65-Jährige", sagt Buettner, "altert 125-mal schneller als ein Zwölfjähriger." Das ist Naturgesetz, unumkehrbar.

Buettner spricht von "Blauen Zonen"

Und doch existieren Gegenden – Buettner spricht von "Blauen Zonen" –, in denen die Menschen steinalt werden und mit 100 noch arbeiten und sexuell aktiv sind. Etwa in der bergigen und abgelegenen Nuoro-Provinz auf Sardinien. Allein Nuoro sorgt dafür, dass es unter den 1,4 Millionen Einwohnern Sardiniens zehnmal mehr Hundertjährige gibt als in ganz Deutschland.

Wie auf Ikaria arbeiten auch die Alten von Nuoro noch körperlich, hacken Holz, gehen weite Wege. Sie ernähren sich vorzugsweise von Gemüse und ungesäuertem Vollkorn-Weizenbrot, trinken täglich ihren Wein zu den Mahlzeiten und täglich Kaffee.

Auch auf der Hauptinsel von Okinawa, berühmt für ihre vielen Hundertjährigen, kennt man kein Rentenalter. "ikigai" ist dort das Zauberwort. Wörtlich übersetzt: "der Grund, für den man morgens aufwacht".

Dieser Grund besteht aus körperlicher Arbeit und zahllosen Aufgaben, die vor allem der unmittelbaren familiären Umgebung zugutekommen. Außerdem stieß Dan Buettner in der "Blauen Zone" von Okinawa auf eine Essensregel, die offenbar schon seit Konfuzius' Zeit (541–479 v. Chr.) überliefert ist. Sie lautet: "hara hachi bu", das ist ein Merksatz, der die Leute daran erinnert, mit dem Essen aufzuhören, wenn der Magen zu höchstens 80 Prozent gefüllt ist.

"Es gibt keine Ernährungsformel für langes Leben", sagt Buettner. "Aber Völlerei ist garantiert keine gute Voraussetzung."

Framingham-Studie aus dem Jahr 1948

In seinem Vortrag auf der TED-Konferenz in Vancouver 2014 (TED steht für "Technology, Entertainment, Design" – seit vielen Jahren die weltweit interessanteste Konferenz für Zukunftsideen) scheute sich Buettner nicht, weit in die Vergangenheit zurückzugreifen, genauer zur Framingham-Studie aus dem Jahr 1948.

Sie brachte damals Begriffe wie Bluthochdruck, Rauchen und Übergewicht als Risikofaktoren in das noch lange widerstrebende Bewusstsein der westlichen Welt (Framingham ist eine Stadt in Massachusetts, wo die Hälfte der damals 28.000 Einwohner an einer Untersuchung teilnahm).

"Aus den Framingham-Studien wissen wir", sagt Buettner, "dass man, wenn die besten drei Freunde dick sind, selbst höchstwahrscheinlich übergewichtig ist oder bald wird." (Cäsars berühmtes Wort "Lasst dicke Männer um mich sein" zitierte Buettner nicht.)

Doch Sport treiben?

Also doch Sport treiben bis zum Abwinken? In der sardischen Provinz Nuoro existieren keine ebenen Wege. Man geht rauf oder runter, und man geht viel. Die Häuser sind steil in die Höhe gebaut, voller halsbrecherischer Treppen, die für alte Leute selbstverständlich geblieben sind.

Die Japaner auf Okinawa arbeiten auf dem Boden sitzend. 100-mal und häufiger stehen sie täglich auf und setzen sich wieder. Das ist Fitness, die sich aus Arbeit ergibt.

Für die meisten Alten in Europa wäre das gar nicht mehr vorstellbar.

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