Die Graphic Novel „Low – David Bowie‘s Berlin Years“ beleuchtet eine entscheidende Phase im Leben der Musik-Ikone: In Berlin konnte Bowie seinen künstlerischen Hunger neu entfachen. Reinhard Kleist nimmt uns im Interview mit auf die Reise in das Berlin der 1970er-Jahre.
Nach Ihrem Buch „Starman“, in dem Sie Bowies Durchbruch thematisieren, beleuchten Sie jetzt seine Jahre in Berlin. Was fasziniert Sie an ihm?
Reinhard Kleist: „Ashes To Ashes“ ist das erste Poplied, an das ich mich so richtig bewusst erinnern kann. Seine Optik war schon immer besonders, wie er da als Harlekin auftritt, das Video zitiere ich auch am Schluss des Buches. Er hat mich durch verschiedene Phasen meines Lebens begleitet, manches fand ich toll, manches vielleicht nicht so, aber er war immer da und immer ein Fixstern für mich.
Viele Menschen äußern sich ähnlich über ihn, erzählen, welchen Einfluss er auf sie hatte.
Reinhard Kleist: Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Köln aufgewachsen, das war meine Welt. Und dann war da dieser David Bowie, der immer wie von einem anderen Stern war. Das war eine andere Welt, ich war auch krass verknallt in ihn. Zudem hat er sich immer neu erfunden, davon hat auch nicht immer alles gepasst, aber er war ein vollkommen überraschender Künstler. Er hat die Musik dafür eingesetzt, Geschichten zu erzählen. Dabei war er aber ein komplett anderer Erzähler als etwa Nick Cave oder Johnny Cash, über die ich auch Bücher gemacht habe.
In „Low“ erzählen Sie von seiner Zeit in Berlin, gehen aber völlig anders vor als in „Starman“, das von seiner Kunstfigur Ziggy Stardust handelt.
Reinhard Kleist: Im ersten Band hatte ich versucht, die Geschichte von Ziggy Stardust in die Erzählung einzubauen. Das geht bei „Low“ und den anderen Berlin-Alben natürlich nicht. Denn da erzählt er keine stringente Geschichte wie die von Ziggy. Hier funktioniert es auf einer ganz anderen Ebene. Die Musik illustriert eigentlich die Stadt. So ist das Buch quasi einerseits als Porträt Bowies zu lesen, es ist aber auch wirklich eine Geschichte über Berlin. Denn die Stadt steht eigentlich immer irgendwie im Vordergrund.
Welche Quellen haben Sie genutzt? Wie sind Sie an den Stoff herangegangen?
Reinhard Kleist: Es gibt unfassbar viel Material, da muss man sich schon so ein bisschen durchwurschteln, was man jetzt nimmt und was man weglässt. Eine wichtige Quelle war natürlich „Helden: David Bowie und Berlin“ von Tobias Rüther. Zudem gibt es ganz viel Fotomaterial, das ich nach Themen sortiert habe, um Orte nachzuvollziehen oder auch ganz platt Gegenstände. Ich habe dann tatsächlich ein Foto gefunden, auf dem er auf dem Fahrrad zu sehen ist, mit dem er häufig durch die Stadt geradelt ist. Das sind dann Rechercheerfolge, an denen ich mich total erfreuen kann, wenn ich so etwas finde.
Bowie galt – neben seinem Status als diese überlebensgroße Ikone – auch als ein humorvoller und sympathischer Typ. Das blitzt im Buch immer wieder durch, da wirkt er mitunter sehr bodenständig. Konnten Ihre Recherchen das also bestätigen?
Reinhard Kleist: Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die damals mit ihm zu tun hatten. Die haben ihn alle als wahnsinnig sympathischen Menschen beschrieben. Ich habe versucht, seinen Seelenzustand zu beschreiben, denn die Zeit vorher in Amerika war nicht einfach für ihn. Er ist dann nach Berlin gekommen, um runterzukommen und sich wieder zu erden. Das möchte ich dem Leser nahebringen, diese Wandlung, die er durchgemacht hat. Vom ziemlichen weggetretenen Mann voller Selbstzweifel zu diesem motivierten, hungrigen Künstler.
Seine Zeit in den Staaten war von Drogen-Eskapaden, Paranoia und dem Starrummel, der um ihn herum herrschte, geprägt. Sie zitieren ja auch sein berühmtes Interview bei Dick Cavett 1974, welches man sich auf YouTube anschauen kann. Da war er völlig zugekokst.
Reinhard Kleist: Aber trotzdem ist er auch bei diesem Auftritt ziemlich lustig und auf eine merkwürdige Art und Weise auch sehr charmant. Er sieht nur sehr ungesund aus, man merkt, dass er einfach einmal etwas Abstand benötigte und auch eine bessere Ernährung. Ich habe gelesen, dass er sich in Amerika eine Zeit lang nur von Milch und Paprika ernährt hat. Und in Berlin hat er dann seine Liebe zu Innereien entdeckt (lacht). Das habe ich auch in eine Szene in meinem Buch eingebaut.
Auffällig ist die thematische Dichte in Ihrem Buch. Es ist erstaunlich, was damals in den wenigen Jahren alles passiert ist. Es wirkt so, als wäre die Zeit damals „dichter“ gewesen, um es einmal so schwammig auszudrücken.
Reinhard Kleist: Ich weiß, was Sie meinen. Während meiner Recherchen habe ich mich manchmal gefragt: Hat der Kerl überhaupt jemals geschlafen? Wie hat er das alles in den wenigen Jahren überhaupt produzieren können? Jährlich ein Album, dann hat er in zig Filmen mitgespielt. Vielleicht hat ihm da auch sein Ruf geholfen, das alles einfacher bewerkstelligen zu können. Vielleicht hatte er einfach so gute Leute in seinem Umfeld, die ihm auch viel Arbeit abgenommen haben, sodass er sich dann in so viele Projekte gleichzeitig stürzen konnte. Aber gleichzeitigt hat er dann auch noch wahnsinnig viel Zeit gehabt, um zu lesen.
Es ist bekannt, wie belesen Bowie war.
Reinhard Kleist: Er hat in einem Interview auf die Frage nach seiner perfekten Vorstellung von Glück geantwortet: lesen!
Und dann kam nach dem Riesenerfolg in den USA Berlin. Eine abgegrenzte Stadt als Refugium.
Reinhard Kleist: Das war es wirklich für ihn: Berlin als Gefühl. Viele haben das ja gar nicht verstanden, das lasse ich im Buch auch immer wieder durchscheinen. Viele in seinem Umfeld dachten ja: Was will er in dieser kalten, grauen Stadt da am Eisernen Vorhang? Aber für ihn war das eben anscheinend dieses Refugium, in dem er sich selbst wiederfinden konnte. Ich habe dann auch diese Oblique-Strategies-Karten von Brian Eno mit eingebaut, die Bowie genutzt hat. Diese Karten sollten Künstlern helfen, ihre kreativen Blockaden zu lösen. „Kauf deine Lebensmittel selbst ein“, stand da beispielsweise auf einer. Und das war es auch, was er wollte. Er wollte einfach unerkannt eine Straße entlanglaufen, sich ins Café setzen oder beim Gemüsehändler einkaufen. Ohne, dass ihm die Leute direkt auf die Pelle rücken. Das war in L.A. wohl überhaupt nicht möglich gewesen, und genau das hat er in Berlin gefunden. Lustigerweise erzählen mir jetzt immer mehr Leute, dass sie Bowie damals in Berlin getroffen haben (lacht). Das widerspricht dem natürlich ein wenig.
So funktioniert Legendenbildung.
Reinhard Kleist: Ja (lacht).
Aber er hat Berlin natürlich auch für seine Kunst genutzt, wie die berühmte Berlin-Trilogie, bestehend aus „Low“, „Heroes“ und „Lodger“, zeigt. Doch irgendwann kam auch dann wieder diese typische Rastlosigkeit auf, und er hat auch in Berlin seine Zelte abgebrochen.
Reinhard Kleist: Tobias Rüthers Buch schildert das sehr schön. Es gab keinen Bang, keinen dramatischen Höhepunkt seiner Berliner Zeit. Er hat Berlin dann einfach verlassen. Für mich, der diese Geschichte in einem Comic erzählen möchte, ist es dann natürlich schwierig, das Buch abzuschließen, wenn es keinen dramatischen Höhepunkt gibt. Deswegen musste ich mir zum Schluss eben etwas anderes überlegen und habe dieses Science-Fiction-mäßige Ende gewählt. Da zitiere ich unter anderem „2001“.
Er läuft durch dieses abstrakte Zimmer und trifft dann auf sein sterbendes Ich aus der „Black Star“-Zeit, das im Bett liegt.
Reinhard Kleist: Der Kubrick-Film hat ihn wahnsinnig beeinflusst. Ich möchte dadurch auch erklären, wie es mit ihm nach Berlin weitergegangen ist und wie er dann zu dieser Ikone wurde.
Sie haben Ihr Buch jetzt offiziell im legendären Meistersaal in den Hansa-Studios vorgestellt. Wie sind solche Premieren für Sie? Ist das immer wieder aufregend?
Reinhard Kleist: Ja, klar, das ist total aufregend, vor allem weil es sich dabei um einen historischen Ort handelt. Der Meistersaal, dasselbe Gebäude, derselbe Ort, an dem David Bowie seine Alben aufgenommen hat.
Damals war das Studio direkt an der Mauer. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Reinhard Kleist: Ja, die Mauer stand direkt gegenüber. Auf den alten Fotos sieht man das. Damals war drumherum gar nichts, dann kam die Mauer. Das ist schon irre.
In einer Szene im Buch stehen die Musiker zusammen mit Bowie am Fenster im erhellten Gebäude und geraten dann in Panik. Sie wollen schnell das Licht ausmachen, damit sie nicht von den Grenzsoldaten der DDR erschossen werden. Die Szene ist sehr eindringlich und sagt viel über die Gefühlslage der Menschen damals aus.
Reinhard Kleist: Das ist so eine urbane Legende, die mir Eduard „Edu“ Meyer, Bowies damaliger Toningenieur in den Hansa-Studios, erzählt hat. Die Szene soll auch verdeutlichen, wie nah die Mauer wirklich war.
In den Studios haben einige internationale Größen aufgenommen: Depeche Mode, Marillion, nach der Wende U2…
Reinhard Kleist: Nick Cave, dem ich auch ein Buch gewidmet habe, auch. Sie waren alle fasziniert von der geteilten Stadt und von diesem Studio.
Mir ist aufgefallen, dass Bowies Äußeres im Buch mitunter variiert.
Reinhard Kleist: Bowie ist nicht leicht zu zeichnen, auch im Vergleich zu Nick Cave, der wesentlich gröbere Gesichtszüge hat. Bei Bowie ist alles in einer feinen Balance und wenn man da irgendwo etwas falsch macht, dann ist er schon weg. Dann hat man ihn nicht mehr getroffen. Deshalb habe ich sehr viel Fotomaterial als Quelle genutzt, um ihn wirklich zu treffen. Hinzu kommt aber auch, dass er ständig anders aussah.
Das ist wirklich erstaunlich. Wenn man sich sein eben schon erwähntes Interview von 1974 ansieht, dann die Berlin-Phase und nur ein paar Jahre später die Phase von „Let’s Dance“, sind das drei verschiedene Personen.
Reinhard Kleist: Ja, er hat auch ständig die Haarfarbe gewechselt, dann die Frisur. Vom Wuschel-Lockenkopf zur Ziggy-Stardust-Frisur, dann der normale Look in Berlin, da lief er zeitweise sogar mit einem Schnäuzer herum. Aber das musste jetzt nicht im Buch vorkommen (lacht). Aber die Leute haben ihn dann auch häufig einfach nicht erkannt.
Eine sehr interessante, aber auch traurige Episode in Ihrem Buch dreht sich um Marc Bolan, den legendären Sänger von T. Rex, der damals eine eigene Fernsehsendung hatte. Da lassen Sie Bolan und Bowie auftreten, die dann den jungen Billy Idol treffen, der damals noch Sänger der Punkband Generation X war.
Reinhard Kleist: Diese Musiksendung kann man sich im Netz noch anschauen, auch die Folge mit Bowie. Die ist wirklich schräg, die Sendungen waren wirklich nicht so richtig gut produziert. Die hatten nicht mal Publikum im Studio, das war irgendwie so zeichentrickmäßig reinprojiziert. Das ist furchtbar, wenn man sich das heute anguckt. Marc Bolan war damals auf dem absteigenden Ast, weil er einfach künstlerisch stehengeblieben ist. Er hat sich wiederholt und war dann irgendwann Schnee von gestern. Im Kontrast dazu war da Bowie, der sich stets weiterentwickelt hat. Nicht falsch verstehen, Bolan war ein großartiger Musiker, aber er ist irgendwie stehen geblieben. Das ist schade. Dieses Treffen der beiden habe ich dann für diese Szenen im Buch genutzt und mir ein wenig dichterische Freiheit gegönnt. Ich habe selbst interpretiert, wie es damals gewesen sein könnte.
Ohne dichterische Freiheit kann man solch ein Buch auch nicht fertigstellen, oder?
Reinhard Kleist: Natürlich versuche ich, bei gewissen Abläufen so nah an der Wirklichkeit zu bleiben wie möglich. Es sind auch Episoden im Buch, die ich unbedingt erzählen wollte. Zum Beispiel, wie diese merkwürdigen Sounds auf Low entstanden sind, welche Geräte dafür genutzt wurden. Auch die Abläufe, wann er auf Tour gegangen ist, wann er dieses oder jenes Konzert gegeben hat, wann er „Heroes“ aufgenommen hat. Das muss natürlich schon alles irgendwie stimmen.
Die Geschichte hinter „Heroes“ ist auch legendär und Sie erzählen Sie in Ihrem Buch auch noch einmal. Wie er seinen Gitarristen Tony Visconti beobachtet hat, der eine Frau an der Mauer geküsst hat.
Reinhard Kleist: Da gibt es unterschiedliche Versionen. Tony Visconti hat die Geschichte viele Jahre geleugnet, aber irgendwann hat er dann gesagt, dass es doch stimmt. Es ist eine von diesen Geschichten, bei denen man irgendwann sagt, es ist auch egal, ob sie stimmt, weil sie einfach so gut ist (lacht).
Genau, die ist so cool, die musste einfach ins Buch.
Reinhard Kleist: Tatsächlich hat die Frau, mit der er da geknutscht hat, im Background-Chor von „Heroes“ mitgesungen. Hinterher hat sie das Lied dann auch ins Deutsche übersetzt, eine sehr schräge Übersetzung, die Bowie auch eingesungen hat. Viele kritisieren die Version, ich finde sie aber eigentlich sehr schön.
Die „Berlin-Trilogie“ kann man auch heute noch als „sperrig“ bezeichnen. Da muss man sich als Hörer erst einmal hineinfinden.
Reinhard Kleist: Es ist schon erstaunlich, was Bowie dem Hörer da zum Teil abverlangt. Auf der zweiten Seite von „Low“ fehlt ja dann auch einfach mal der Gesang. Da war die Plattenfirma wohl auch „not amused“.
Sie thematisieren auch Christiane F. und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ im Buch.
Reinhard Kleist: Ich finde diesen Film großartig, besonders diese Sequenz, in der David Bowies Musik eingesetzt wird. Das ist absolut irre und das habe ich im Comic auch zitiert. Da gibt es die Szene, in der Bowie auf der Bühne steht, und Christiane im Publikum steht. Ich zitiere den Film und nutze den Text von „Heroes“, der ja sehr allegorisch ist. Ich wollte die Stimmung dieses Songs im Zusammenhang mit diesem Film erzählen. Dieses Anhimmeln eines Stars, dieses „sich wegträumen“ aus dem eigenen Leben. Dass man so vieles als junger Mensch auf eine Bühnenpersönlichkeit projiziert und dann natürlich enttäuscht werden muss, weil der Star dann irgendwann wieder weg ist.
Ist mit „Low“ David Bowies Geschichte für Sie zu Ende erzählt? Was kommt jetzt?
Reinhard Kleist: Bowie ist jetzt durch, und ich bin jetzt gerade so ein bisschen in einer Findungsphase, was ich als nächstes erzählen möchte. Ich habe sonst immer ein Buch nach dem anderen gemacht, aber jetzt möchte ich erst einmal überlegen, was ich jetzt möchte. Ich werde jetzt nicht die nächste Musikerbiografie in Angriff nehmen, ich habe drei gemacht und möchte auch nicht anfangen, mich zu wiederholen.
Wie lange haben Sie an „Low“ gearbeitet?
Reinhard Kleist: Das waren schon vier Jahre.