09.10.2018 Kultur

Das kulturelle Erbe der 68er

Von Katharina Hamacher

Vor einem halben Jahrhundert gingen die Jugendlichen auf die Straße und kämpften für Freiheit und Gerechtigkeit. Doch was ist von der Bewegung des gesellschaftlichen Umbruchs übriggeblieben? Rainer Langhans, Alt-68er und Bewohner der legendären Kommune 1, erinnert sich.

Demonstrierende Studenten, wilde Straßenschlachten und freie Liebe: Kaum ein einzelnes Jahr prägte die jüngste Zeitgeschichte der Bundesrepublik so stark wie das Jahr 1968, das zum Sinnbild und Schlagwort einer ganzen Generation wurde. Die Jugendlichen, die sich lautstark gegen das enge Korsett der Nachkriegszeit auflehnten, ebneten den Weg für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.

Rainer Langhans, legendärer 68er und ehemaliger Bewohner der berüchtigten Berliner Kommune 1, sieht in dem politischen Engagement seiner Generation einen großen Wendepunkt: "Wir haben damals den Boden bereitet für die heutige Freiheit." Viele Entwicklungen, wie etwa das Internet, seien ohne die 68er-Bewegung nicht möglich gewesen. In der nahezu grenzenlosen Welt des World Wide Web sieht Langhans die Visionen der Kommunarden lebendig werden. "Wir haben damals das erste Mal in unserem Leben eine umfassende Freiheit gespürt", erinnert er sich. "Das Gefühl war unbeschreiblich, es glich einer Utopie: grenzenlose Liebe, die alles und jeden verbindet. Für mich ist das Internet seitdem der erste Versuch, der uns bewusst macht, dass wir auf diese Erfahrung zugehen."

Eine Kulturrevolution

Die Musik der aufbegehrenden Generation, die vor allem aus den USA herüberschwappte, wurde zum Soundtrack der Revolution. Die Jugendlichen und Studenten wurden nicht nur bei den Demos laut, sie drehten auch zuhause Plattenspieler und Radio auf. Zum Leidwesen vieler Eltern dröhnten die Beatles, Rolling Stones, The Doors, Jimi Hendrix, The Who und Janis Joplin aus den Jugendzimmern. Die Texte richteten sich gegen die Grausamkeiten des Vietnamkriegs, gegen Rassendiskriminierung und plädierten für Liebe und Demokratie. Langhans spricht von einer radikalen Veränderung der Medienlandschaft und einer "Kulturrevolution", die Ende der 1960er-Jahre ausgelöst wurde.

Im medialen Bereich zeigt sich das Erbe der 68er besonders ausgeprägt im Kino und TV. Stanley Kubricks visionäres Werk "2001: Odyssee im Weltraum", das 1968 in die Kinos kam, wird heutzutage als einer der einflussreichsten Filme aller Zeiten angesehen. Die neue Freiheit, der sich die Filmemacher bedienten, brachte frische Ideen in die verstaubte deutsche Filmwelt. "Was bis dahin gezeigt wurde, war sehr verklemmt", erinnert sich Rainer Langhans. Das brave, mütterliche Frauenbild der 1950er wurde durch Filme wie Werner Enkes "Zur Sache, Schätzchen", der 1968 mit der jungen Uschi Glas in der Hauptrolle in die Kinos kam, untergraben. Frischen Wind in die deutschen Schlafzimmer brachten auch die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle. Seine Werke wie "Das Wunder der Liebe" und "Deine Frau, das unbekannte Wesen" brachten ihm oft den Vorwurf ein, gegen Sitte und Moral zu verstoßen. Kolle stellte erstmals in der deutschen Kino- und TV-Landschaft weibliche Lust und sexuelles Selbstbewusstsein in den Fokus. Auch die Werke der neuen Kinobewegung "Nouvelle Vague", die bereits Ende der 1950er Jahre in Frankreich ihren Ursprung hatte, knüpften an die sexuelle Revolution an und zeigten das neue Frauenbild. Regisseure wie François Truffaut, der zu den bekanntesten Namen der "Nouvelle Vague" gehörte, proklamierte mit Filmen wie "Jules und Jim" von 1961 neue Formen der Liebe.

Auch in Deutschland gab es in den 60er-Jahren eine "Neue Welle". Sie drückte sich im "Oberhausener Manifest" aus, in dem viele Filmemacher eine Abkehr vom verstaubten deutschen Nachkriegskino forderten. Weltweite Anerkennung brachten dem deutschen Kino-Aufbruch vor allem die Filme des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder.

Emanzipation der Frauen

Die neue Medienwelt war eng verknüpft mit der sexuellen Revolution, für die sich die Kommunarden einsetzten. Was das Kino langsam etablierte, wurde in der Kommune 1 längst gelebt. Sexuelle Selbstbestimmung war für die Mitglieder selbstverständlich, erinnert sich der Kommunarde Rainer Langhans. In seiner ehemaligen Partnerin Uschi Obermaier, die als Fotomodell mit zahlreichen Affären – unter anderem mit Stones-Frontmann Mick Jagger – für Schlagzeilen sorgte, sieht er eine Vorreiterin der Emanzipation. Für Langhans ist seine ehemalige Weggefährtin damit besonders in Zeiten der sogenannten #MeToo-Debatte ein beispielhaftes Vorbild für junge Frauen in puncto weibliche Selbstbestimmung.

In der DDR unterdrückt

Die Jugendlichen in Ostdeutschland haten es ungleich schwerer als ihre Altersgenossen im Westen. Zwar erhoben sich auch in der DDR zahlreiche Studenten, um gegen die bestehenden Verhältnisse im eigenen Staat und weltweite Kriege auf die Straße zu gehen. Ebenfalls von Rockmusik und einem neuen Lebensgefühl inspiriert, stießen sie jedoch auf einen viel größeren Widerstand von oben. Den jungen ostdeutschen Revoluzzern stand mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und der Nationalen Volksarmee (NVA) eine autoritäre Staatsgewalt gegenüber.

Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Sozialismus, die viele mit ihrem Aufbegehren verbanden, wurden jedoch durch den Einmarsch der sowjetischen Armee in der damaligen Tschechoslowakei im August 1968, die gewaltsame Beendigung des "Prager Frühlings" und die Bereitstellung der NVA an der Grenze zum Nachbarland zunichte gemacht. "Die Ostdeutschen standen politisch unter einem weitaus stärkeren Druck als wir im Westen", blickt Rainer Langhans zurück. Außerdem sei die Idee der Kommune für junge Revolutionäre aus dem Osten damals undenkbar gewesen. "Selbst Rudi Dutschke weigerte sich standhaft, in unsere Gemeinschaft einzutreten. Er hielt – wie viele Ostdeutsche – an der Tradition der Kleinfamilie fest, die wir rigoros ablehnten", so der 78-Jährige.

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