14.08.2023 Wenn Geschlecht eine Rolle spielt

Gendermedizin bringt Vorteile für alle

Von Anne Richter
Medizinische Erkenntnisse beruhen oft auf männlichen Testsubjekten.
Medizinische Erkenntnisse beruhen oft auf männlichen Testsubjekten. Fotoquelle: GettyImages / Jonathan Knowles

In der Medizin setzt sich mittlerweile durch, bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen auch das Geschlecht der Patienten zu berücksichtigen. Das hat gute Gründe.

Frauen und Männer unterscheiden sich bekanntermaßen biologisch: Die einen haben zwei X-Chromosomen, die anderen X und Y, die Hormonspiegel sind verschieden, und von geschlechtsspezifischen Krankheiten wie Gebärmutterhalskrebs oder Prostatakrebs bleibt die jeweils andere Seite verschont. Von solchen eindeutigen Unterschieden abgesehen, ging man aber lange davon aus, dass eine Krankheit eine Krankheit ist – und beispielsweise ein Herzinfarkt bei allen Menschen gleich aussieht. Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden, und es setzt sich in vielen medizinischen Bereichen die Erkenntnis durch, dass es auch bei nicht geschlechtsspezifischen Erkrankungen Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben kann.

Beispiel Herzinfarkt

Der eben genannte Herzinfarkt ist ein gern gewähltes Beispiel: Häufige Symptome sind Schmerzen, Druckgefühl und Unwohlsein im Brustraum. Bei Frauen treten die Brustschmerzen aber nicht immer auf, dafür haben sie andere, weniger typische Symptome wie beispielsweise Atemnot oder Bauchschmerzen. Weil daher teilweise nicht erkannt wird, dass Frauen einen Herzinfarkt haben, kommen sie häufig erst später ins Krankenhaus als Männer. „Frauen wissen manchmal selbst nicht, dass sie gerade einen Herzinfarkt erleiden“, sagt Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. Die „männlichen“ Symptome seien viel stärker im Bewusstsein verankert. Die Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin kennt aber auch den umgekehrten Fall, dass nämlich Männer die weniger typischen Symptome einer Erkrankung zeigen: „Das ist bei der Depression der Fall. Männer, die damit in die Behandlung kommen, berichten eher von Schmerzen, in denen sich die Depression äußert, sie macht sie aggressiv oder sie haben Suchtprobleme.“

Der Deutsche Ärztinnenbund setzt sich schon seit mehr als 30 Jahren dafür ein, dass Genderaspekte in der Medizin Berücksichtigung finden. Die Gründe für den männlich geprägten Blick auf die Medizin sieht Dr. Groß auch in der Vergangenheit: „Wissenschaft wurde früher in erster Linie von Männern gemacht, es wurde der ‚Norm-Mann‘ als Forschungsobjekt genutzt. Der Contergan-Skandal bedeutete einen weiteren Einschnitt. Klinische Forschung an Frauen im gebärfähigen Alter fand in der Folge kaum statt, die Ängste waren zu groß.“

Fehlende Daten

Daher fehlt es bei Studien zu älteren Medikamenten, die aber immer noch auf dem Markt sind, oft an Daten zu Frauen. Und selbst bei der Grundlagenforschung wurde häufig auf männliche Tiere gesetzt, um die Auswertung ohne Rücksicht auf den weiblichen Hormonhaushalt und dessen Schwankungen zu vereinfachen, so Dr. Groß. Seit den 1990er-Jahren habe aber ein Umdenken in der Pharma-Forschung eingesetzt, Frauen spielen inzwischen eine größere Rolle bei der klinischen Forschung. Ein Problem, so die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, seien aber weiterhin die alten Daten. Empfohlene Dosierungen altbekannter Medikamente seien teilweise für Frauen unpassend, da sie einen anderen Körperbau haben und durch andere Muskel- und Fettverteilung und wegen der Hormone unter Umständen anders auf die Arzneimittel reagieren. Durch falsche Dosierung können beispielsweise schwerere Nebenwirkungen auftreten. „Ich empfehle deshalb Frauen, immer bei ihrem Arzt nachzufragen, ob die Standarddosierung für sie passt“, sagt Dr. Groß.

Zudem setze sich die Datenlücke in die Zukunft fort, wenn nun beispielsweise Systeme, die mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeiten, mit den alten Datensätzen programmiert werden. Der Deutsche Ärztinnenbund fordert daher weiterhin, dass Genderaspekte eine größere Rolle spielen müssen.

Fortschritte bei der Ausbildung

Einen eindeutigen Fortschritt sieht Dr. Christiane Groß im Bereich der Ärzteausbildung: „Da ist viel passiert. In der fachärztlichen Weiterbildungsordnung sind Genderaspekte inzwischen Standard. Besonders in den Bereichen Kardiologie und Pharmakologie ist man schon sehr weit. Und die Approbationsordnung wird gerade neu aufgesetzt, auch da sollen im Prüfungsbereich Genderaspekte künftig vertieft werden.“ Zukünftige Ärzte hätten das Geschlecht also deutlich mehr im Blick. Und auch in der Gesellschaft sei das Thema angekommen. „Früher wurde Gendermedizin oft als Frauenmedizin abgetan, das ist nun anders.“ Dazu beigetragen habe auch die Corona-Pandemie, wo es eine Sensibilisierung gegeben habe, da zunächst Frauen und Männer unterschiedlich betroffen waren, erklärt Dr. Groß. Am Ziel sei man aber noch lange nicht, sagt die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. „Ich bin überzeugt, dass für alle Patienten ein besseres Behandlungsergebnis erzielt werden kann, wenn Genderaspekte einbezogen werden. Und perspektivisch sollte der Weg zu einer individualisierten Medizin führen, bei der auch das Alter und andere Umstände eine Rolle spielen.“ In der Krebstherapie werde dieser Weg schon häufig mit Erfolg beschritten.

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