04.10.2023 Pia Osterhaus im Interview

Stern TV Spezial: Gewalt gegen Frauen

Von Marcus Italiani
Pia Osterhaus macht auf häusliche Gewalt aufmerksam.
Pia Osterhaus macht auf häusliche Gewalt aufmerksam. Fotoquelle: RTL

Häusliche Gewalt ist leider immer noch zu oft ein Tabuthema. Wir haben mit Pia Osterhaus über das Stern TV Spezial "Kein Opfer mehr! Flucht aus der Beziehungshölle“ gesprochen.

Frau Osterhaus, jede dritte Frau in Deutschland wurde schon einmal Opfer häuslicher Gewalt. Die Dunkelziffer ist wohl höher. Wie ist dieses Phänomen gesellschaftlich zu erklären?

Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und die Zahlen belegen, dass es überwiegend Männer sind, die Gewalt gegenüber ihrer Partnerin ausüben. Das hat sicherlich auch mit alten Rollenbildern zu tun, also einem Machtanspruch gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Denn in vielen Fällen geht es eben um Macht und Kontrolle, die dann mit Gewalt durchgesetzt wird. Aber trotz allem denke ich, dass die Ursachen häuslicher Gewalt vielschichtig sind und die Politik und wir als Gesellschaft viel mehr tun müssen.

Nämlich?

Wir sind als Gesellschaft gefragt, dieses Tabu zu brechen, die Betroffenen aus der Stigmatisierung herauszuholen. Denn die meisten Frauen schweigen aus Angst vor den Konsequenzen, aber auch vor der angesprochenen Stigmatisierung durch ihre Mitmenschen.

Wie äußert sich diese Stigmatisierung?

Ich habe viele Themen in den vergangenen Jahren bearbeitet. Aber auf so ein großes Tabu wie bei diesem bin ich noch nie gestoßen.

Es ist doch so, dass viele Menschen beim Thema häusliche Gewalt sofort fragen, warum die Frau nicht einfach geht. Das habe ich während meiner Recherchen so oft gehört. Aber so einfach ist es meistens nicht. Wo soll diese Frau denn hin? Dann gibt es wirtschaftliche und emotionale Abhängigkeiten. Wir müssen das Problem hinter den verschlossenen Türen hervorholen, damit die Frage nicht mehr lautet: „Warum geht sie nicht einfach?“ Sondern vielmehr: „Was kann ich tun, um ihr zu helfen, dort herauszukommen?“ Wenn ich Zeuge einer Auseinandersetzung im Nachbarhaus werde, bei der möglicherweise Gewalt im Spiel ist, sollte niemand weghören, sondern die Polizei rufen.

Es gibt nicht genug Frauenhäuser in Deutschland. Was müsste vor allem in strukturschwachen Regionen passieren, damit sich Besserung einstellt?

Schätzungsweise fehlen bis zu 15.000 Frauenhaus-Plätze in Deutschland. Jeden Tag versucht ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Und fast jeden dritten Tag gelingt das schrecklicherweise.

Ich finde, dass daher dringend in Sachen Frauenhäuser nachgearbeitet werden sollte. Jede Frau, die den Mut hat, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, muss sofort einen Platz bekommen. In der Realität dauert das allerdings meistens Stunden oder Tage. Gerade in ländlichen Bereichen, wo der Bus nur unregelmäßig fährt und die Frauen oft kein eigenes Auto haben, brauchen wir beispielsweise mobile Beratungsangebote für die Frauen. Generell brauchen wir einfach mehr und vor allem niedrigschwellige Hilfsangebote für die Frauen.

Warum fehlen denn so viele Plätze in Frauenhäusern oder Anlaufstellen für betroffene Frauen in Deutschland? War die Istanbul-Konvention 2011 nur ein Lippenbekenntnis?

Man könnte den Verdacht hegen, dass das Thema nicht angemessen betrachtet wird. Zudem stellt die Tatsache, dass die Vorgehensweise Ländersache ist, zumindest in Deutschland ein Problem dar. Vielleicht sollte es eine zentrale Stelle geben, die sich bundesweit um Anlaufstellen und Plätze kümmert, um für mehr Struktur und eine wirkliche Übersicht zu sorgen. Wichtig ist, dass wir schnell eine Lösung finden.

Ziehen sich die Gewalttaten durch alle Schichten oder gibt es Gruppen, die dafür besonders anfällig sind?

Ich kann aufgrund meiner Recherche sagen, dass häusliche Gewalt in wirklich allen Schichten auftritt. Ich durfte mit einer Lehrerin sprechen, einer Ärztin, einer Hausfrau, einer Reinigungskraft, einer Kosmetikerin. Und auch die Täter kommen aus allen Bildungsschichten. Ich bin ganz sicher, dass es jede Frau treffen kann.

Sie haben bis zu einem Jahr zu dem Thema recherchiert und betroffene Frauen lange begleitet. Wie genau ist das abgelaufen, und welche Hürden mussten dabei überwunden werden?

Die Hürden stellen sich einem schon in den Weg, wenn man an belegbare Zahlen kommen will, weil die zu vielen Themen gar nicht erhoben werden. Das große Problem am Anfang war aber, Frauen zu finden, die bereit sind, mit uns darüber zu sprechen. Wir sind über sehr viele Selbsthilfegruppen gegangen und haben es dann geschafft, am Ende mit mehr als 100 Frauen zu reden. Es gab Betroffene, die ihr Problem seit Jahrzehnten mit sich allein herumtragen, andere haben bereits Unterstützung in Anspruch genommen. Als die erste Frau mir sagte, wie gut es ihr täte, endlich mal darüber zu sprechen, wurde mir erst klar, wie groß und bedrückend das Tabu ist. Häusliche Gewalt hat viele Gesichter: körperliche, sexualisierte und auch psychische Gewalt. Männer, die ihre Frauen demütigen, erniedrigen und ihnen einreden wie wenig sie wert sind.

Was kann man von den Frauen lernen, die sich aus den geschilderten Situationen befreien konnten?

Ich bin dankbar, dass ich in diesem Jahr der Recherche so viele starke und mutige Frauen kennenlernen durfte, die trotz alldem, was sie durchmachen, mussten es geschafft haben wieder aufzustehen. Und viele von ihnen führen heute wieder ein glückliches Leben ohne Gewalt.

Es gibt Hoffnung. Und das ist auch für die Kinder der Betroffenen wichtig, die sehen, dass Mama es schafft, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und dass es Wege heraus aus solchen Situationen gibt.

 

Bild: RTL+

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