03.03.2023 renommierter Naturfilmer im Gespräch

Die Faszination der heimischen Meere

Von Felix Förster
Kegelrobbe und Oktopus in trauter Zweisamkeit.
Kegelrobbe und Oktopus in trauter Zweisamkeit. Fotoquelle: NDR/Martina Andrés/Doclights Naturfilm

In der Dokumentationsreihe „Unsere Meere“ thematisiert die ARD die filmisch bisher eher vernachlässigte Nord- und Ostsee. prisma hat Naturfilmer Thomas Behrend dazu interviewt.

Guten Tag, Herr Behrend. Wo treffen wir Sie gerade an?

Thomas Behrend: Ich komme gerade von einem Dreh auf den Seychellen zurück und bin wieder zuhause.

Das ist ja ein Kontrast zu Ihren Drehs an der Nord- und Ostsee für den Vierteiler „Unsere Meere“, der jetzt in der ARD gezeigt wird. Etwas wärmer, oder?

Thomas Behrend: Ja, definitiv (lacht). Diese großen Kontraste bei den jeweiligen Drehs sind völlig normal. Das macht aber auch den Reiz dieses Berufes aus.

Die Dokumentationsreihe „Unsere Meere“ beschäftigt sich mit dem faszinierenden Lebensraum der Nord- und Ostsee. Wie ist die Serie konzipiert, auf was können sich die Zuschauer freuen?

Thomas Behrend: Es ist sehr lange nichts Relevantes über unsere heimischen Meere gedreht worden. Es ist eine Herausforderung, sowohl die Nord- und Ostsee als auch die Tiere, die hier beheimatet sind, filmisch zu dokumentieren. Gleich zu Beginn muss man sich entscheiden, welche Tiere eine Rolle spielen sollen. Könnten Sie mir problemlos eine Tierart aus der Ostsee nennen, die Sie unbedingt in einer Dokumentation sehen möchten? Den meisten Menschen würde das schwerfallen. Es ist einfach zu wenig bekannt.

Was verbindet Sie denn persönlich mit diesen beiden Meeren?

Thomas Behrend: Sehr viel, besonders die Ostsee ist mir nah: hier bin ich aufgewachsen und auch zum ersten Mal getaucht. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, mit welchen „tierischen Protagonisten“ ich drehen möchte, wer besonders erstaunliche Geschichten liefert: Seehase und Seenadel sind gute Beispiele. Bei beiden Tieren kümmert sich ausschließlich das Männchen um den Nachwuchs und das besonders aufopferungsvoll. Ich liebe emotionale Geschichten, die den Zuschauern die Welt der Tiere nahebringt. Ich möchte ihr Leben abbilden: womit sie zu kämpfen haben, welche Herausforderungen es gibt. In den 90er-Jahren habe ich mich als Reportage-Kameramann hocharbeiten müssen und gelernt, dass jede Geschichte einen Konflikt oder zumindest eine Herausforderungen für den Protagonisten braucht, sonst funktioniert sie nicht.

Kann man sagen, dass Sie den Zuschauern mit dieser Dokureihe ihre Heimatmeere näherbringen möchten?

Thomas Behrend: Unbedingt. Ich möchte zeigen, welche Lebensräume es in diesen Meeren gibt. Ganz besonders wichtig ist beispielsweise die Seegraswiese, die Unmengen an CO2 schluckt, Sauerstoff erzeugt und auch der Erosion der Küstengebiete entgegenwirkt. Nun braucht man aber natürlich einen Protagonisten, um diesen Lebensraum vorstellen zu können, der das Ganze schmackhaft macht. Und damit kommen wir zum Seenadel-Männchen, das in der Seegraswiese lebt. Über die Geschichte dieses Tieres transportiere ich auf der anderen Seite diesen Lebensraum und seine Bedeutung. Und ich versuche, das mit jeder meiner Geschichten so zu machen.

Welche Themen haben Sie gewählt?

Thomas Behrend: Es gibt sehr viele Probleme in den Meeren und wir haben uns dafür entschieden, diese Probleme anhand von Tiergeschichten zu visualisieren. Beim Tierfilm kann man Überfischung oder Mikroplastik nicht direkt zeigen. Man bräuchte Wissenschaftler, die das Problem benennen oder wissenschaftliche Untersuchungen. Wir hätten auch Helfer-Teams filmen können, die Geisternetze in den Meeren entfernen. Eine Reportage kann das leisten, ein Tierfilm nicht. Daher stellt sich die Fragen: Welche Probleme eignen sich überhaupt für die Visualisierung?

Ihr Ansatz ist ja genau andersherum: So haben Sie die Tiergeschichten erzählt und den Zuschauern in Nebensätzen vermittelt, wo die Probleme liegen. So gesehen ein pädagogisch sinnvoller Ansatz.

Thomas Behrend: Ganz genau. Ich mache das mittlerweile über 30 Jahre und bemerke bei vielen Menschen eine Sättigung. Bei zu vielen schlechten Nachrichten schalten viele Zuschauer mittlerweile ab. Sie möchten ja viel mehr wissen, was sie tun können, wie sie helfen können. Es ist wichtig, ins Bewusstsein zu rufen, dass man zusammen vieles bewirken kann. Keine Plastiktüten beim Einkaufen, keinen Müll am Meer hinterlassen. Die Meere wären sehr viel sauberer und gesünder, würde sich jeder daran halten!

Die Wasseraufnahmen für die Serie sind faszinierend. Wie stellt man sich das als Laie vor, wie schaffen Sie es, quasi unsichtbar für die Tiere zu sein, um sie beobachten zu können?

Thomas Behrend: Für diese Filme habe ich extra nach Mitarbeitern gesucht, die besonders gut im sogenannten Apnoe-Tauchen sind, das heißt, die ohne Sauerstoffflaschen tauchen können. Das schweizerische Biologenpaar Martina Andrés und Manuel Spescha hat für uns gearbeitet. So entstanden Aufnahmen, die sonst nie möglich gewesen wären. Sie konnten minutenlang ohne Gerät und damit sehr leise nah an den Tieren filmen, die sonst durch die Geräusche des Tauchgeräts sofort weggeschwommen wären.

Können Sie dann ohne die Luftbläschenbildung näher heran an die Tiere?

Thomas Behrend: Es ist nicht nur das, sie sind natürlich auch viel schneller. In einer Folge haben wir eine Otter-Familie auf den Shettland Inseln begleitet. Wenn die Mutter ihren Jungen das Jagen beibringt, schießen die Tiere torpedogleich durch das Wasser. Mit einem Tauchgerät und 10 Kilo Blei am Körper wäre man nicht in der Lage, den Tieren zu folgen. Mit der Apnoe-Technik ist das möglich. Wir konnten so auch die Seehundbabys in der Ostsee filmen. Bei der Auswahl der Protagonisten aus der Tierwelt müssen wir entscheiden, wie wir sie filmen. Der Qualitätsanspruch der Filme ist inzwischen so hoch, dass man bei der Planung ganz genau vorgehen muss. Ein gutes Beispiel ist die Migration der Meerforellen, die in der Ostsee einmal im Jahr in ihre Geburtsflüsse zurückkehren. Wir wussten ganz genau, an welchen Stellen die Tiere vorbeiziehen. So waren wir sicher, dass wir die Bilder drehen können, die wir uns vorgestellt haben.

Sie haben für die Serie in elf Ländern an 320 Drehtagen gedreht und über 500 Stunden Unterwasseraufnahmen und 400 Stunden Rohmaterial gefilmt – wann haben Sie mit den Planungen begonnen?

Thomas Behrend: Im Sommer 2019. Im November desselben Jahres war ich das erste Mal auf Recherche-Reise. Bis vor Kurzem waren wir die ganze Zeit unterwegs. Durch die Corona-Pandemie konnten wir auch häufig gar nicht zusammen reisen, sondern mussten das Team aufteilen. Ich habe dann oft von dem Drehort aus, an dem ich mich gerade aufgehalten habe, Fern-Regie geführt. Viele Mitarbeiter sind hervorragende Filmer und Kameraleute, das heißt aber nicht automatisch, dass sie auch Geschichten erzählen können. Ich habe mir dann häufig das Filmmaterial zuschicken lassen und Anweisungen gegeben: Dies fehlt noch, das müsste noch gedreht werden. Das war eine ganz besondere Herausforderung. Man darf aber auch nicht vergessen wie sich die Art des Drehens im Laufe der Zeit geändert hat. Als ich in den 1980er- und 1990er-Jahren angefangen habe, war man mit einem Stativ und Kamera, Weitwinkel und einer Telelinse unterwegs. Das war es. Heutzutage brauche ich für nahezu jedes Kapitel ein Teleobjektiv, Drohnen im Einsatz und einen Unterwasserkameramann. Landschaften werden in Nahaufnahmen und aus der Vogelperspektive vorgestellt. Da wir nicht mehr mit Stativ arbeiten, müssen das alles Bewegtbilder sein. Vielmehr haben wir Motion-Control-Systeme mit Schienen, damit sie mehrere Ebenen zeigen können. Klassische Arbeit vom Stativ aus haben wir nur noch bei Action-Szenen. Und damit komme ich zurück auf die große Herausforderung: Früher habe ich ganz viel selbst gedreht. Heute muss ich mich mehr und mehr aus der Kameraarbeit zurückziehen, wenn ich alle Kameraleute zu einem perfekten Gesamtwerk steuern und delegieren möchte. Es gab auch Situationen, in denen ich im Hotel auf das Material der verschiedenen Kameraleute wartete und nach Durchsicht entschienden habe, was noch fehlte oder neu gedreht werden musste.

Sie delegieren also viel mehr als früher?

Thomas Behrend: Ich führe mehr Regie und das liegt daran, dass der Anspruch an die Aufnahmen und die verschiedenen Techniken so groß geworden ist, dass man das alleine nicht mehr leisten kann. Zumindest nicht, wenn man ganz oben mitspielen möchte. Ich betrachte es als Privileg, dass ich die ersten vier Folgen dieser neuen Flagship-Serie drehen durfte.

Wie groß ist Ihr Team bei einer solchen Produktion?

Thomas Behrend: Wir haben vier Festangestellte und der Rest sind Freelancer. Leute, die spezialisiert sind auf Unterwasseraufnahmen oder Profis, die besonders gut Vögel filmen können. Einen Vogel im Flug perfekt mitzuschwenken mit einer extremen Telelinse ist sehr schwierig. Es gibt auch Kollegen, die Drohnen besonders gut bedienen können.

In Folge 1 geht es neben den Unterwassertieren auch um die Kegelrobben auf Helgoland. Mir war gar nicht bewusst, wie gewaltig diese Tiere sind. Die mussten Sie aus einer größeren Distanz drehen, oder?

Thomas Behrend: Ja, das mussten wir, denn man bekommt auf Helgoland keine Sondergenehmigung. Wir haben es viele Monate versucht, waren aber nicht erfolgreich. Dort wurde speziell für die Touristen und Hobbyfotografen auf der Düne ein Steg gebaut, allerdings ist der 40 Meter von der Action entfernt. Wir wären gerne noch näher dran gewesen, aber es ging einfach nicht. Helgoland spielt in Folge 2 noch einmal eine Rolle, dann geht es um die Basstölpel, die sich dort in den Fischernetzen verfangen. Ich persönlich mag Helgoland nicht so gerne, denn das ist dort schon eine eigene Welt. Aber man darf nicht vergessen, das es in Deutschland der einzige Ort ist, an dem man hautnah wilde Tiere erleben kann. Ein ganz besonderer Ort.

Eine ganz besondere Szene der Serie ist auch die des kleinen Katzenhais, der in den Norwegischen Fjorden auf die überall lauernden Seeteufel aufpassen muss. Wie kamen diese Szenen zustande?

Thomas Behrend: Tatsächlich durch meine Erfahrung, denn ich hatte ähnliche Haie schon mehrfach in Australien und Kalifornien gedreht. In Australien und Neuseeland gibt es den Port-Jackson-Hai, der wie der Katzenhai in Bodennähe lebt, weil er für andere Lebensbereiche einfach nicht gebaut und auch nicht schnell genug ist. Mir war damals aufgefallen, dass es dort, wo es sandig ist, ganz viele Plattfische gibt, die es auf die frischgeschlüpften Haie abgesehen haben. Und so kamen wir auf die Idee mit den Katzenhaien und ihren Feinden, den Seeteufeln. Dass dann diese Episode mit dem Katzenhai-Baby genauso passiert wie im Film, konnte ich natürlich nicht ahnen. (lacht)

Sie thematisieren in den Folgen ganz unterschiedliche Naturräume wie das Wattenmeer oder die Fjorde, die Hochseeinsel Helgoland, aber auch die Seegraswiesen an der französischen Küste. Wo war das Filmen für Sie persönlich am faszinierendsten?

Thomas Behrend: Mir persönlich haben die Dreharbeiten auf den Shettland Inseln am besten gefallen. Das liegt aber auch daran, dass ich dort noch nicht war. Was die Ostsee anbelangt, war ich am meisten fasziniert von Anholt in Dänemark. Selten haben ich irgendwo gedreht, ohne dass man andere Menschen sieht. Das war einfach fantastisch. Aber meine Lieblingsgeschichte bleibt die mit dem Seehasenmännchen, der ja bei uns in der Ostsee heimisch ist. Wie der um seinen Nachwuchs kämpft, was der alles für Angreifer abzuwehren hat, das ist unfassbar. In den vier Folgen darf es thematisch keine Doubletten geben. Wir müssen pro Folge sechs oder sieben Geschichten erzählen, die in möglichst unterschiedlichen Habitaten stattfinden. Die verschiedenen kleinen Ökosysteme müssen dem Zuschauer vermittelt werden, damit er die komplexen Lebensräume voll erfassen kann.

Wie hatten Sie denn vorher geplant?

Thomas Behrend: Wir haben uns 30 Geschichten überlegt, zehn davon haben überhaupt nicht funktioniert - trotz jahrzehntelanger vorheriger Erfahrung. Dafür haben wir aber fünf, sechs neue Geschichten gefunden, von denen wir vorher gar nichts wussten.

Da haben Sie dann spontan reagiert?

Thomas Behrend: Ja, zum Beispiel in der Ostsee. Zwischen den dänischen Inseln gibt es drei Kanäle, die frisches Meerwasser aus der Nordsee mit sich führen: den kleinen Belt, den großen Belt und den Öresund. Dort hat man noch Nordseebedingungen mit 35 Promille Salzgehalt im Wasser. Wenn man dann aber erst einmal über die Darßer Schwelle hinaus ist, über die das schwerere Nordseewasser kaum hinüberkommt, hat man von dort an mehr oder weniger Süßwasserbedingungen. Mit diesen schwierigen Bedingungen kommen viele Tiere, die im Larvenstadium dort hineingespült werden, einfach nicht klar. Die ganzen Seesterne, die Sie an der deutschen Küste noch finden, gibt es hinter der Schwelle kaum noch, und die Miesmuscheln, die normalerweise bis zu sieben, acht Zentimeter lang werden, sind auf Rügen nur noch so groß wie eine Mandel. So haben wir in dieser schwierigen Umgebung Geschichten gefunden, die dort typisch sind: wie etwa die Erdkröten, die nicht in einem Teich oder See ihre Eier ablegen, sondern in der Kurischen Nehrung in Litauen. Hier können sie mit dem geringen Salzgehalt umgehen. Diese ganzen Anpassungen sind einfach sensationell. Interessant ist auch die Entstehungsgeschichte der Ostsee. Dieses Gebiet war lange von Gletschern belegt, und einige Tiere sind über die Gletscher aus dem Polarmeer in die Ostsee gekommen. Eine ganz besondere Kegelrobbenpopulation lebt im Norden von Estland. Die haben aber durch die globale Erwärmung große Probleme mit der Wärme. Die Mütter müssen zur Abkühlung ständig ins Wasser und können ihre Jungen nicht mehr richtig ernähren.

Sie haben in der Ostsee sensationelle neue Aufnahmen einer Ringelnatter-Population filmen können, die es so vorher noch nicht gab.

Thomas Behrend: Das ist eine endemische Art, die sich Gotland-Ringelnatter nennt. Aufgrund der geologischen Bedingungen mit dem kalkigen Untergrund auf Gotland, in dem alles Wasser versickert, gibt es dort kaum Seen oder Binnengewässer. Was hat die Evolution mit dieser Schlange gemacht? Es ist die einzige Schlange, die ausschließlich in der Ostsee jagt. Wir waren die Ersten, die sie gefilmt haben. So haben wir es geschafft, mit der Serie ein großes Portfolio abzudecken: Wir haben Reptilien wie Schlange und Kröte, Seevögel, Säugetiere, Fische und Schalentiere. So konnten wir das Tierreich in seiner ganzen Artenvielfalt darstellen.

Man merkt Ihnen die Begeisterung an. Was ist denn aber schöner zu filmen, die raue Nord- und Ostsee oder wärmere Meere?

Thomas Behrend: Mir ist das völlig egal, für mich steht die Geschichte im Vordergrund – ob in der Arktis oder an der Nord- und Ostsee. Letzteres ist sogar bestätigender, weil die anderen Themen schon so häufig gefilmt wurden.

Wird die Serie verlängert, wie sehen die Pläne da aus?

Thomas Behrend: Die ARD möchte die Reihe fortführen: „Unsere Berge“, „Unsere Flüsse“. Sollten wir „Unsere Flüsse“ drehen, wird das eine echte Herausforderung: die Elbe ist beispielsweise zu 95 Prozent urbanisiert, entweder von Städten oder von Landwirtschaft umgeben. Schaun wir mal.

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