19.12.2017 Kultur

Tanzen heißt kämpfen heißt tanzen

Von Florian Blaschke

"Morgen kommen die Amerikaner", sagt Roberto Gómez und lehnt sich in seinem großen Holzstuhl zurück, um kurz Atem zu holen. "Und dann kann ich in einem meiner beiden Häuser Zimmer an Touristen vermieten." Er sieht zufrieden aus, wenn er über diese Idee nachdenkt. Und stolz. "So macht man Geschäfte", fügt er hinzu. "Aber dafür braucht man eben ein bisschen Fernlicht."

Sein "Fernlicht", wie Roberto das nennt, hat der Familienvater offenbar mit in die Wiege gelegt bekommen. Übersetzer hat er gelernt, dazu Psychologie und klassische Gitarre studiert – und heute, da betreibt er ein kleines Geschäft, das Haushaltsgeräte repariert. Vielleicht war es auch sein Fernlicht, dass ihn und seine Frau damals diese Entscheidung treffen ließ, Tochter Glenda auf die Ballettschule zu schicken. Denn heute, mit 28, ist Glenda ein Star, Solistin im kubanischen Nationalballett und Mitglied des "Ballet Revolución". Mit dem wird sie bald wieder auf Tour gehen. Auch nach etlichen Gastspielen in Europa, den USA oder China noch keine Selbstverständlichkeit.

Was derzeit auf Kuba passiert, könnte man einen großen Import-Export-Handel nennen. Die Importeure: Produzenten wie Mark Brady und Choreographen wie Aaron Cash, die erfolgreich neue Einflüsse importieren. Und gleichzeitig sind sie auch die Exporteure, mit Produktionen wie ihrem "Ballet Revolución", mit dem sie ein Stück kubanisches Flair in die Welt verschiffen. Besser verkaufen lassen sich derzeit wohl nur kubanischer Rum, Zigarren und Che-Guevara-T-Shirts.

So simpel dieser Handel auch klingt, Cash setzt ihn voller Leidenschaft um. Er komme zwar eher aus dem kommerziellen Show-Bereich, betont der in Australien geborene Tänzer und Choreograph immer wieder, doch an Kuba und den historischen Wurzeln, die hier im Tanz ganz besonders tief liegen, hat ihn etwas gepackt: "Tanzen gehört hier zum Alltag, es ist Teil der Kultur, Teil der Religion, Teil der Erziehung." Und es ist Teil der Politik. Nicht nur die Handelsbeziehungen zwischen Kuba und Russland waren über Jahrzehnte hervorragend, auch im kulturellen Bereich gab es eine enge Zusammenarbeit. Und so importierte der Staat von Fidel Castro auch das Ausbildungssystem der russischen Ballettschulen, die es auch außerhalb Havannas in jedem Dorf gibt.

Und so heißt Tanzen auf Kuba auch kämpfen. Nicht in dem plakativen Sinn, den der Name "Ballet Revolución" vermitteln will, sondern in einem ganz alltäglichen. In einem Land, in dem es den wenigsten Eltern möglich ist, ihren Kindern teure Ballettschuhe zu kaufen, ist das Ballett eine echte Chance – auf Ruhm, auf Wohlstand, auf Reisen. Dafür nehmen die Nachwuchstänzer einiges auf sich, so Cash. "Ich habe zwei eiserne Hüften, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu tanzen. Und alle hier im Ensemble würden dasselbe für die Karriere tun." Und auch Produzent Mark Brady betont: "Ich habe nie eine Company härter arbeiten sehen."

Während viele der Tänzer für die Monate auf ausländischen Bühnen Familie und Partner zurücklassen, hat Glenda auch hier Glück gehabt. 2014 holte sie ihren Freund Julio vom Nationalballett zum Ballet Revolución. Für den Schwiegervater nicht nur aus diesem Grund ein Volltreffer. "Er kocht sehr gut", sagt Roberto und grinst. "Das gefällt mir."

Wie weit aber die Welten, zwischen denen die beiden pendeln, auseinanderliegen, sieht man am besten nachts. Dann strahlt das "Gran Teatro de la Habana Alicia Alonso", benannt nach der inzwischen 97-jährigen Grande Dame des kubanischen Balletts, durch die Nacht, während die Altstadt drumherum im Dunkeln versinkt. Zwischen dem bröckelnden Putz der Wohnhäuser und den vielerorts maroden Straßen wirkt das 2015 frisch renovierte Opernhaus wie ein hochglanzpoliertes Relikt – und tatsächlich sind nicht wenige der Ballett-Aufführungen hier so etwas wie historische Aufführungspraxis. Schwanensee? Wird hier gerne noch so getanzt wie russische Original aus dem 19. Jahrhundert. Doch gerade das passt das für Glenda und Julio gut zu ihrer Arbeit beim Ballet Revolución: "Beim Nationalballett haben sie unser Engagement anfangs kritisch gesehen", sagt Julio, "aber inzwischen sind viele aufgeschlossen." Für ihn und Glenda bestehe der Reiz vor allem darin, dass der moderne Einfluss den klassischen Tanz aufbrechen könne, um etwas ganz Eigenes hervorzubringen. "Das Ballet Revolución ist freier als Ballett", ergänzt Glenda. "Es fühlt sich natürlicher an." Ob dieser Spagat zwischen den Welten für die beiden so etwas wie ihre persönliche Revolution ist? Sie schweigen und lächeln.

Bei den Proben und auf der Bühne jedenfalls verschmelzen diese beiden Welten, Ballett und Modern Dance, kubanische Tanztradition und westliche Show, karibische Rhythmen wie Cha-Cha-Cha, Rumba oder Mambo und amerikanischer oder europäischer Pop – von Justin Timberlake bis Coldplay. Ob das in Aaron Cashs Augen nicht auch so etwas wie kultureller Kolonialismus sei? Natürlich habe er solche Gedanken auch manchmal gehabt, aber am Ende werde das dem Projekt nicht gerecht sagt. Das Ballet Revolución sei viel mehr. Zeitgemäßer Tanz, so etwas wie eine globale Idee – und vor allem eine große Chance für alle Beteiligten.

Auch wenn Glenda von der Tournee spricht, von Europa, von Deutschland, bekommt sie glänzende Augen. Was der Vater nie geschafft hat, trotz seines Jobs als Übersetzer, sie darf es: ins Ausland reisen, Geld verdienen, das man zurücklegen kann, Schnee sehen. Mit diesen Reisen wurde ein Traum wahr, den sie schon als kleines Kind hatte – spätestens, seit sie diese Ballerina im Fernsehen sah. Heute lebt sie für das Tanzen, noch. Denn wer weiß, wie lange sie diesen Beruf ausüben kann, Ballett-Tänzer auf ihrem Niveau haben eine ähnlich kurze Profikarriere wie Fußballer. Vielleicht noch zehn Jahre, doch irgendwann ist Schluss. Und dann? Noch wissen beide nicht, was danach kommt, doch Chancen sehen auch sie überall. Schon heute unterrichten sie Kinder im Tanzen und bereiten sie auf die Ballettschule vor, vielleicht aber schlagen sie auch einen ganz anderen Weg ein. "Ich verkaufe gerne", sagt Glenda nach kurzem Nachdenken. "Vielleicht arbeite ich auch irgendwann in einem Laden wie mein Vater." Der freut sich sichtlich über diese Idee. "Sie hat mein Blut", sagt er. Und wieder ist da dieser Stolz in seinem Gesicht.

Die nächsten Monate aber wird er erst einmal ohne seine Tochter auskommen müssen. Etliche Monate werden die beiden unterwegs sein, werden durch Deutschland, Österreich und die Schweiz touren und den Import-Export am Laufen halten – nicht nur kulturell. Auch einige Mitbringsel finden bei solchen Tourneen den Weg nach Kuba – wie die Piaggio, mit der Glenda und Julio jeden Tag die 20 Minuten in die Stadt zu Proben und Auftritten fahren, oder Betten und Möbel, die sie von früheren Tourneen mitgebracht haben wie so viele andere Tänzer – per Container von Ikea.

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