Hamburger Musiker

Kettcar-Album: Warum "Ich vs. Wir" in Erinnerung bleiben wird

von Eric Leimann

"Ich vs. Wir", das neue Werk von Kettcar, wird als eines der wichtigsten deutschen Rockalben seit Jahren in Erinnerung bleiben. Dafür sorgen nicht nur der majestätisch schöne Sound aus flirrend geschichteten Indie-Gitarren, sondern auch einige der treffendsten politischsten Songs, die man seit Langem gehört hat.

Kettcar, eine der prägenden deutschen Bands der Nullerjahre, hatten viele abgeschrieben. Sänger und Songschreiber Marcus Wiebusch veröffentlichte 2014 das Soloalbum "Konfetti". Darauf wirkte sein aus dem Körper herausgepresster Emo-Gitarrenpop ein wenig abgenutzt. Nun trifft der 49-Jährige aber wieder genau den richtigen Ton. Fünfeinhalb Jahre nach ihrem letzten Album rafften sich die Hamburger Musiker von Kettcar noch einmal auf – und wie! Marcus Wiebusch über ein Album (hier bei Amazon bestellbar), das in unruhigen, deprimierenden Zeiten wie gerufen kommt.

prisma: Ist es Zufall, dass ein Album mit dem Titel "Ich vs. Wir" so kurz nach der Bundestagswahl erscheint?

Marcus Wiebusch: Ja, das ist Zufall. Es ist richtig, dass sich viele politische Songs auf dem Album befinden. Sie spiegeln aber die Entwicklung der letzten Jahre wider. Hätte die Bundestagswahl zwölf Monate später stattgefunden, glaube ich, sie hätte in etwa das gleiche Ergebnis gebracht. Insofern sind die Gedanken des Albums nicht an einen Termin gebunden.

prisma: Viele Stücke auf "Ich vs. Wir" arbeiten sich am Verhältnis zwischen Individuum und Masse ab. Warum?

Wiebusch: Weil ich mich heute mehr denn je frage, mit wem ich eigentlich etwas zu tun haben will. Wir leben in einer Zeit, in der quasi im Minutentakt demokratisch legitimierte Vollidioten-Entscheidungen auf uns einkrachen: Trump, Erdogan, Brexit, AfD 13 Prozent. Da stellt sich die Frage: Wo sind denn noch meine Leute? Mit wem will ich hier eine Gesellschaft aufbauen, für die es sich zu leben lohnt?

prisma: Im ersten Stück "Ankunftshalle" fahren zwei deprimierte Protagonisten zum Flughafen, um zu beobachten, wie die Ankommenden von ihren Lieben abgeholt werden. Sie tun es, um emotional aufzutanken ...

Wiebusch: Weil für sie in dem Song die Ankunftshalle eines Flughafens einer der wenigen Orte ist, an dem die Masse menschlich wird. Die Fremden werden für einen kurzen Moment "ihre Leute". Sie sind eben "keine Meute" mehr.

prisma: Der Begriff "Wir" ist in Ihren Augen vorwiegend negativ besetzt?

Wiebusch: Nein. Ich weiß, dass jede politische Verbesserung nur über das "Wir" funktioniert. Wenn ich alleine eine Online-Petition starte und mich über 34 Unterzeichner freue, bepinsele ich damit vor allem mein Ego. Aber ich erreiche nicht viel.

prisma: Womit wir wieder bei der Bundestagswahl wären. Müsste man sich nicht in einer Partei engagieren, wenn man wirklich etwas verändern will? Schließlich ist das der demokratisch vorgesehene Weg ...

Wiebusch: "Demokratisch vorgesehen" ist ein interessanter Begriff. Wo fängt denn Politik an? Sie beginnt da, wo man für seine Mitmenschen Empathie empfindet und entsprechend handelt. Politik ist für mich Basisarbeit. Dass du in deiner Community die Situation deines Kinderladens verbesserst, dass du den Obdachlosen in deinem Viertel hilfst oder andere unterstützt, die benachteiligt sind.

prisma: Das wären Veränderungen von unten, nach dem Motto: Wenn jeder sein eigenes Verhalten ändert, haben wir eine bessere Gesellschaft. Es gibt auch Menschen, die glauben: Veränderungen von oben, also durch die Politik, funktionieren besser und schneller.

Wiebusch: Ich bin mir da nicht so sicher. Man kann mit scheinbar kleinen Dingen das Klima einer Gesellschaft spürbar verändern. Wenn die Menschen sich entsprechend verhalten, können "die da oben" nur noch das umsetzen, was "unten" vorhanden ist. Nehmen wir den Atomausstieg. Merkel hätte das nie gemacht, wenn sie nicht gespürt hätte, es gibt da eine breite gesellschaftliche Mehrheit, die Atomkraftwerke einfach nicht mehr haben will. Wie solche Überzeugungen entstehen, das ist ein hochkomplexer Prozess. Er entsteht im gesellschaftlichen Diskurs. Fukushima spielte damals eine wichtige Rolle, aber es war nicht der einzige Impuls. Man kann durch eigenes Handeln einen Zeitgeist erzeugen, dem sich die Politik irgendwann nicht mehr entziehen kann.

prisma: Früher nannte man das Handeln des Einzelnen für die Gruppe soziales Engagement. Täuscht es oder hört sich der Begriff heute ein bisschen aus der Zeit gefallen an?

Wiebusch: Ja, es hat den Anschein. Das "Ehrenamt" zum Beispiel – heutzutage ist das ein Begriff, der fast schon humoristisch verwendet wird. Die Leute haben anderes zu tun, als ein Ehrenamt zu übernehmen. Wahrscheinlich müssen sie in der Zeit Serien gucken. Trotzdem, es ist noch nicht alles verloren. Es gibt viele junge Menschen, die sich engagieren wollen, und damit meine ich nicht nur Proteste gegen G20. Viele Menschen möchten auf vielfältige Weise etwas Sinnvolles tun. Ich komme immer mehr da hin, solche Leute aus tiefstem Herzen zu mögen. Früher habe ich sie als "Gutmenschen" verspottet, was übrigens mittlerweile ein rechter Kampfbegriff ist. Deshalb verwende ich ihn auch nicht mehr.

prisma: Im beeindruckenden Song "Sommer '89" erzählen Sie von einem jungen Fluchthelfer aus Hamburg, der nach Österreich fährt, um dort Löcher in den Grenzzaun nach Ungarn zu schneiden. Warum gerade jetzt dieses Lied?

Wiebusch: Um alle Menschen in diesem Land 2017 daran zu erinnern, dass das Helfen durch Zäune ein zutiefst menschlicher Akt ist. Die aktuelle Flüchtlingsthematik kommt in dem Lied jedoch nicht in einer Silbe vor. Ich finde, das muss sie auch gar nicht. Die Wirkung ist so fast stärker.

prisma: Sie beschreiben den Fluchthelfer als Helden, der nach seiner Tat von den linken Theoretikern seiner WG verurteilt wird. Trotzdem singen sie am Ende über die aus der DDR-Geflüchteten: "Sie kamen für Kiwis und Bananen, für Hartz IV und Begrüßungsgeld."

Wiebusch: Ich singe auch "Sie kamen für Grundgesetz und freie Wahlen, für Immobilien ohne Wert, sie kamen für Udo Lindenberg". Flüchtlinge kommen niemals alle aus dem gleichen Grund. Oft trägt jeder einzelne unterschiedliche Gründe in sich, warum er seine Heimat verlässt. Jede Flucht wird von ambivalenten Gefühlen begleitet. Das ist einfach nur menschlich, und uns selbst würde es auch so gehen.

prisma: Viele Fans glaubten, die Band Kettcar würde es gar nicht mehr geben. War die Sorge berechtigt?

Wiebusch: Absolut. 2012 haben wir das Album "Zwischen den Runden" gemacht – es war der Tiefpunkt unserer Band. Wir redeten nicht mehr so miteinander, wie man reden muss, um gute Musik zu machen. Oft haben wir gar nicht mehr geredet, was am allerschlimmsten ist. Es gab viele Kämpfe. Nach meinem Soloalbum setzten wir uns zusammen, spielten uns Musik vor und führten viele Diskussionen. Es war schnell klar, dass wir wieder einen gemeinsamen Boden gefunden hatten. Etwas, das gerade bei Bands, die lange dabei sind, extrem wichtig ist. Wenn es diesen gemeinsamen Boden nicht gibt, kann man nicht weitermachen. Uns war nach diesem Treffen schnell klar, wir würden ein sehr politisches, hochenergetisches Rockalbum machen. Ich finde, es ist eines unserer besten geworden.

prisma: Sie werden im nächsten Jahr 50 Jahre alt. Wie schwer ist es, im Rock würdevoll zu altern?

Wiebusch: Ich fühle mich gar nicht so alt. Wir haben gerade ein sehr, sehr gutes Album aufgenommen. Es herrscht ein sehr positiver Geist in der Band, wir spielen tolle Konzerte. Allein deshalb fühle ich mich heute jünger als vor fünf oder zehn Jahren.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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