In ihrem vierten Fall bekommen es die Nürnberger Kommissare Voss (Fabian Hinrichs) und Ringelhahn (Dagmar Manzel) mit mehreren tragischen Familiengeschichten zu tun.
Ein aus Libyen stammendes Geschwisterpaar wurde in seinem einsam gelegenen Haus am Rande Nürnbergs brutal erschlagen. Die beiden Opfer lebten lange in Deutschland, waren bestens integriert. Auch wenn unklar ist, ob die Tat einen fremdenfeindlichen Hintergrund hat, ermitteln Felix Voss (Fabian Hinrichs) und Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) im vierten Franken-"Tatort" unter erhöhtem Druck der Öffentlichkeit. Seltsam ist, dass der Ziehsohn der Toten seit der Tat verschwunden ist. Auch jener Ahmad (Josef Mohamed) gilt als "ausländischer Mitbürger" wie aus dem Bilderbuch: sympathisch, hochintelligent, einer der besten Studenten seines Jahrgangs. "Ich töte niemand" entstand im gleichen Team wie das bärenstarke Debüt "Der Himmel ist ein Platz auf Erden" von 2015. Wieder gelingt Autorenfilmer Max Färberböck und seiner Drehbuch-Partnerin Catharina Schuchmann ein komplexes, den Zuschauer emotional stark einnehmendes Stück über Schuld und fehlgeleitete Moral.
Es ist ein komplexes Puzzle, das die Nürnberger Ermittler in den trüben, frühherbstlichen Tagen ihres vierten Falles zusammensetzen müssen. Die lohnendste Spur scheint das Auffinden des verschwundenen Ziehsohns zu sein. Dummerweise scheint keiner aus dem erweiterten Umfeld des "Superstudenten" etwas über dessen Verbleib zu wissen. Während der Ermittlungen erhält Paula Ringelhahn eine schockierende Nachricht: Ihr Kollege und guter Freund Frank Leitner (André Hennicke) starb bei einem wohl selbst verschuldeten Verkehrsunfall. Zuletzt galt der Familienvater als depressiv. Während des Crashs hatte er einen heiklen Mix verschiedener Medikamente intus. Als mögliche Querverbindungen zwischen den toten Libyern und Frank Leitner auftauchen, rutschen die Nürnberger Ermittler in einen emotionalen Grenzbereich ab. Ihre Arbeit vermischt sich mit persönlichen Krisen, die auch dem Zuschauer zusetzen.
Am Anfang ist es Paula Ringelhahn, die Felix Voss aufbauen muss. Der zugezogene Ermittler scheint zwar endlich angekommen in Nürnberg – die erste Szene zeigt ihn alkoholisiert-euphorisch bei der Einweihungsfeier in seiner neuen Wohnung. Nach der Inspektion des Horror-Tatorts – die Opfer wurden mit Eisenstangen quasi zermatscht – fragt sich Voss stark ernüchtert nach der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Andere Berufe, so der Ermittler, suchten nach dem Schönen, wollten die Welt verbessern. Kommissare hingegen liefen dem Schlechten und Bösen hinterher, sperrten es weg, warteten auf das nächste Übel und würden irgendwann mit kurzem Händedruck in den Ruhestand verabschiedet. Und davor? Ein ewiger Kreislauf aus Naherfahrungen menschlicher Abgründe. Kein schönes Leben.
Später dann, als Ringelhahn vom Tode ihres Kollegen und wohl ehemaligen Liebhabers stark angegriffen scheint, ist es Voss, der emotional in die Offensive geht. In mehreren auf sehr böse Art witzigen, voller Esprit geschriebenen und gespielten Verhörszenen wird Kommissar Felix Voss wieder ein wenig zur Kultfigur Gisbert Engelhardt. Jene subversiv komische und verstörende Nervensäge, die Fabian Hinrichs 2013 in einer Gastrolle der Münchener "Tatort"-Folge "Der tiefe Schlaf" jene Fanschar einbrachte, die wohl später zu seiner "Tatort"-Existenz in Franken führte.
Mit Verhörmethoden, die das Ehrgefühl seiner Gesprächspartner mit pöbelnder Philosophie heftig angreifen, provoziert Felix Voss alias Fabian Hinrichs nicht nur die Befragten im Film, sondern auch den Zuschauer vorm TV. Einen solchen Kommissar sieht man normalerweise nicht im Fernsehen. Eher vermutet man ihn auf der Bühne eines ambitionierten Großstadttheaters. All das geschieht, ohne dass dieser emotional sehr wuchtige "Tatort" eine jener berüchtigten "experimentellen Folgen" wäre. Das Buch von Max Färberböck und Catharina Schuchmann fordert den Zuschauer aufgrund seines komplexen Handlungs- und Personengeflechts zwar einiges an Aufmerksamkeit und emotionaler Widerstandskraft ab. Unter dem Strich bleibt der Plot jedoch ein bodenständiger Fall aus dem Hier und Jetzt.
Im krimiästhetischen Grenzbereich deutscher Fernseh-Unterhaltung bewegen sich lediglich die Charaktere, deren fataler moralischer Extremismus für Wagenladungen voll Tragik sorgt. Der feine, wenn auch an der Grenze zum Konstruierten taumelnde Schuld-und-Sühne-"Tatort" erinnert mehr an Shakespeare – oder noch stärker an Dostojewski – als an ganz offensichtlich gewagte Filmgenre-Übungen, welche die "Tatort"-Gemeinde seit Jahren spaltet. "Ich töte niemand" ist eine Krimi-Tragödie, die dem Menschen ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Das ergibt einen düsteren Film, ist aber – auf die Realität bezogen – leider keineswegs experimentell.