Europameisterschaft in Frankreich

Sisu und Thunder Clapping: Islands wertvollste Importe

29.06.2016, 14.06 Uhr
Staunende isländische Fans: Mit einem Einzug ihrer Mannschaft ins Viertelfinale der Europameisterschaft hatten sie wohl selbst kaum gerechnet.
BILDERGALERIE
Staunende isländische Fans: Mit einem Einzug ihrer Mannschaft ins Viertelfinale der Europameisterschaft hatten sie wohl selbst kaum gerechnet.  Fotoquelle: Marco Iacobucci EPP / Shutterstock.com

Sie hatten keine Chance, jetzt sind sie Helden: Wunder sind manchmal leicht zu erklären.

Von Detlef Hartlap

Alles ist erklärbar, selbst das Icelandic Thunder Clapping, das rhythmische und langsam anschwellende Handschlagen über dem Kopf, mit dem die isländischen Fans ihre Spieler anfeuern und die Spieler nach vollbrachter Tat ihre Piratensiege feiern.

Nach dem 2:1 über England wurde der Donnerschlag zu einer gleichsam liturgischen Handlung. Die Mannschaft baute sich  vor den Fans auf. Aron Gunnarsson, der Mann mit dem roten Bart, gab den Takt vor (hier im Video zu sehen). Was folgte, wurde von esoterisch angehauchten Gemütern als Wikinger-Ritual gesehen. Tatsächlich wichen Anspannung, Schmerzen, Rührung und Stolz im Crescendo des Donnerschlagens einem seligen Lächeln.

Das Erstaunen über das Gelingen eines gigantischen Streichs wurde, wie in einem spirituellen Bad, genossen und zugleich bewältigt. Erleichtert konnte man sich hernach harmloseren Feier-Riten hingeben, dem Abbusseln von Töchtern, Frauen und Freunden sowie der Gewährung betont nüchterner TV-Interviews.

Den Thunder Clap praktizieren die Isländer freilich erst seit 2014, sie haben ihn damals importiert. Die Mannschaft von Stjarnan Gardabaer (Gardabaer ist ein Vorort von Reykjavik) spielte eine erstaunlich erfolgreiche Europa-League-Kampagne, die sie auch nach Motherwell in Schottland führte. Wie Fans und Team dort gemeinsam den Donnerschlag zelebrierten, das gefiel den Isländern. Sie übernahmen es.

Schade um eine weitere schöne Wikinger-Legende!

Unterdessen wird überall auf der Welt nach Gründen (oder Legenden) geforscht, wie es zu dem isländischen Fußballwunder hat kommen können. Nach dem Wunder von Bern – dem deutschen WM-Sieg 1954 – wird es seinen Platz in den Fußball-Annalen bekommen, sicher noch über dem griechischen EM-Gewinn von 2004 und dem Sieg der USA über England bei der Weltmeisterschaft 1950 in Brasilien.

Zwei Aspekte bleiben dabei erstaunlich unterbelichtet: Die Gründe für das Versagen der englischen Mannschaft im Angesicht der drohenden Niederlage und zweitens die Entwicklung des isländischen Teams im Verlauf des Turniers in Frankreich.

1:4-Klatsche für deutsche U21-Nationalmannschaft

Es gibt im und außerhalb des deutschen EM-Kaders eine Reihe von Spielern, die den bisherigen Opfern der Isländer warnende Hinweise hätten geben können. Am 11. August 2010 standen Mats Hummels, Benedikt Höwedes, Kevin Großkreutz und Marcel Schmelzer im Team der deutschen U21-Nationalmannschaft gegen Island und wurden mit einer (damals unfassbaren) 1:4-Klatsche nach Hause geschickt. Der isländische Nachwuchs hatte es in sich.

Die Treffer für Island erzielten Birkir Bjarnason, dessen blondes Fusselhaar wie eine Standarte über die EM-Kampfplätze weht, Gylfi Sigurdsson, der unermüdliche Mittelfeldrenner, Kolbeinn Sigthorsson, dessen Name ihn zum Schützen des Siegtors gegen England prädestinierte, sowie Alfred Finbogasson, der beim FC Augsburg in der Bundesliga recht erfolgreich spielt, aber offenbar nicht gut genug für die derzeitige Startelf ist.

Ein solches Resultat wie auch spätere Siege der A-Mannschaft gegen die Niederlande und die Türkei erklären natürlich nicht alles, und überhaupt besteht wenig Anlass, den isländischen Fußball größer zu machen als er ist. Es mag jede Menge Fußballhallen geben in Reykjavik, es mag unglaublich viele lizenzierte Trainer geben in Island, es mag hier und da sogar annähernd bundesligataugliches Talent in einigen der isländischen Spieler schlummern  - die Grundformel der bisherigen Turniererfolge bleibt bestehen. Sie lautet: Du hast keine Chance. Nutze sie!

Das ist die Kraft, aus der Islands Team seine militärische Ordnung auf dem Feld und seine starrsinnige taktische Disziplin schöpft sowie das an finnische Langstreckenläufer gemahnende Sisu, jene geheime geistige Macht, die über die natürlichen Körperreserven hinausführt.

Gegen Portugal vollbrachten sie einen Lausbubenstreich, der deshalb glücken konnte, weil die Portugiesen und vor allem Ronaldo keine Lust auf blaue Flecken hatten. Gegen Ungarn merkten sie, die Taktik mit mindestens acht Abwehrspielern in zwei Viererreihen (meist aber sogar mit neun Abwehrspielern, weil eine Sturmspitze in der Verfolgung seines Gegenspielers mit nach hinten gezogen wurde) funktioniert ganz ausgezeichnet; jedenfalls funktionierte es bis unmittelbar vor Schluss, als den Ungarn der verdiente Ausgleich glückte.

Österreich (1:2) befand sich im dritten Gruppenspiel fast schon in der Lage, die auch den Engländern zusetzte: Geringes Vertrauen an die eigenen Fähigkeiten, wenig Hoffnung, dass sich überhaupt jemand in der eigenen Mannschaft zum Toreschießen finden würde. Island siegte und nahm einen Schuss in Sachen Selbstvertrauen wie ein Jugendlicher nach überstandener Pubertät.

Die Angst in jedem Pass, in jeder Flanke

Schließlich England. Mit dem Toreschießen hatte es schon gegen Russland nicht geklappt. Ein Torwartfehler half zum 1:0, das dummerweise noch ausgeglichen wurde. Gegen Wales das gleiche Bild: viel Aufwand, wenig Ertrag, immerhin ein knapper Sieg in der Nachspielzeit. Gegen die Slowakei: Viel Aufwand, kein Ertrag. Englische Teams können Stürme entfachen, den Gegner in Grund und Boden spielen - Tore erzielen sie in lächerlich geringer Zahl. Das hat Tradition. 1:0 war in der First Division, wie die Premier League früher hieß, das häufigste Resultat.

Trotzdem konnte Island gegen diesen Gegner nur gewinnen, weil die Angst vor einer Blamage den Engländern nicht nur anzusehen war. Sie steckte in jedem Pass (Rooneys Fehlpässe, Diers Abtauchen), in jeder Flanke (weder Walker noch Rose hatten den nötigen Mumm), in jedem Freistoß. Es war armselig, was Harry Kane in der Schlussphase auf besten Freistoßpositionen bot. Flatternde Gedanken, Fußstellungen, die dem Geist nicht gehorchen wollten. Angst fressen Seele auf. Dem englischen Spiel fehlte der Leader, der Mitreißer. Auf dem Platz wie am Spielfeldrand.

Auch Wunder haben ihre Gründe. Islands Wunder wurzelt tief in den Defiziten des englischen Fußballs, wenn er einmal ohne Stars und Trainer aus dem Ausland bestehen soll.


Quelle: dh

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