prisma hat mit ihm gesprochen und erfahren, warum Frankreich erst mit seiner eigenen Mannschaft gefremdelt hat, die WM 1990 für ihn wie ein großes „Dorffest“ war und weshalb Deutschland für ihn der „Darth Vader der WM-Geschichte“ war.
prisma: Beim Titel Ihres neuen Buchs „Die größte aller Partys“ hätte ich erst einmal pure Feierlaune erwartet. Das ist auch meine erste Frage: Der Titel klingt nach purer Freude, aber man spürt sofort Ironie und auch kritische Distanz, wenn Sie Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Fußball-Weltmeisterschaft teilen. Wie viel Party und wie viel Marathon steckt wirklich in Ihrem WM-Tagebuch?
Simon Kuper: Ich bin während einer WM immer ein bisschen wie ein Kellner auf einer Party. Ich kann es nicht völlig genießen, weil ich alles sehe und mitbekomme, was hinter den Kulissen passiert. Ich nehme jeden Tag alles wahr. Das trägt dazu bei, dass die WM für mich weniger eine Party ist, sondern eher ein Marathon. Mein Blick auf die WM ist daher ein bisschen von außen, ein bisschen anthropologisch wie ein Naturforscher. Ab und zu kann ich die Turniere aber auch wirklich genießen, aber deutlich weniger als die Fans, die für einen Tag reinfliegen und dort dann den besten Tag ihres Lebens haben.
Sie beschreiben passend dazu sehr schön und eindrücklich die Situation der Journalisten 2002 in Japan und Südkorea, als man sich extrem fremd vorkam, anonym war. Als Außenstehender denkt man ja immer: Die Journalisten fliegen in diese fernen Länder, können Fußball schauen und berichten dann darüber. Das muss doch ein absoluter Traumjob sein. Sie schildern es aber durchaus desillusionierend. Ist es für viele Journalisten eher eine Pflichtaufgabe?
Man will natürlich dabei sein, man hat davon geträumt, einmal bei einer WM zu sein. Aber wenn man dann ein Spiel wie Kroatien gegen Ecuador sieht, das fußballerisch uninteressant ist, bei dem man kein Fan beider Mannschaften ist, und damals endeten die meisten Spiele 0:0, dann steht man um fünf Uhr morgens auf, fährt stundenlang mit dem Zug in eine andere Stadt, kommt in einer Kleinstadt an, sucht das Hotel, versucht etwas zu essen – oft unmöglich, ein Restaurant zu finden oder überhaupt zu wissen, was ein Restaurant ist. Dann arbeitet man bis zwei Uhr nachts. Das macht nicht immer Spaß.
Ich bin Jahrgang 1977, meine erste richtige WM war die 1986 in Mexiko. Damals war Maradona der absolute Überspieler, der auch heute noch seinen Weg gehen würde, da bin ich sicher. Aber ansonsten hat sich der Fußball doch sehr geändert seit damals, oder? Hat sich die Qualität verbessert?
Die WM war bis in die 1980er-Jahre der beste Fußball überhaupt. Es gab nur 16 Mannschaften bis 1978, da waren immer die besten Spieler der Welt dabei, und die Nationalteams waren besser als die Vereinsmannschaften. Vor den 1990er-Jahren mit dem Bosman-Urteil konnten selbst Bayern oder Manchester United nicht die besten Spieler der Welt kaufen. Die Nationalmannschaften waren dadurch stärker. Das ist heute nicht mehr der Fall, denn die WM ist größer geworden, mit jetzt 32 Teams und bald 48. Da ist schon viel Mittelmaß dabei. Da haben Sie dann Länder wie Paraguay oder Japan oder Trinidad, die wahrscheinlich nicht mal in der Bundesliga mithalten könnten. Gleichzeitig sind die Vereine besser geworden. Liverpool, Bayern, Madrid haben die besten Spieler der Welt und spielen jede Woche zusammen. Ein Champions-League-Klassiker vom letzten Wochenende ist besser als fast alle WM-Spiele.
2026 spielen 48 Mannschaften mit, die WM ist dann auf drei Länder aufgeteilt: USA, Mexiko und Kanada. Hat das Inklusionscharakter oder gibt es eher eine Verdünnung der Qualität?
Das ist eine Verdünnung der Qualität, denn rein fußballtechnisch wird das eine größtenteils mittelmäßige Angelegenheit werden. Das fängt dann ab dem Viertelfinale an, interessant zu werden. Dass man dann wirklich guten Fußball sieht, und selbst dann ist das nicht garantiert. Die FIFA wollte, dass sich China oder Indien qualifizieren – das wäre kommerziell sehr interessant für sie gewesen. Das passiert nicht, dafür freuen sich kleinere Länder wie Jordanien oder Katar. Für einen Fan dort ist es unheimlich toll, einmal im Leben die Nationalmannschaft bei einer WM zu sehen. Für mich bedeutet das mehr 0:0-Spiele.
Ein weiterer Aspekt des neuen Systems ist, dass mehr europäische Fußballnationen von der Endrunde ausgeschlossen werden, wie aktuell vielleicht Italien, das in die Play-Offs muss. Und das, obwohl sich die ganze Welt qualifizieren kann. Deutschland hatte ja auch zunächst Probleme.
Na ja, es wäre schon eine ungeheure Leistung von Deutschland gewesen, sich nicht zu qualifizieren. Italien wird das vielleicht schaffen (lacht). Europa ist aber nun einmal der beste Fußball-Kontinent. Man muss auch sehen, dass sogar Luxemburg, mit dem es Deutschland zu tun hatte, jetzt keine schlechte Mannschaft hat. Und vor einigen Jahren waren die Isländer ein wirklich starkes Team. Die sind zum Beispiel besser als China, als die USA, als Indien oder Indonesien, also die größten Länder der Welt. Island mit gerade einmal 300.000 Einwohnern. Gerade in Westeuropa, in der besten Fußballregion der Welt, kann es sein, dass dann Italien und Deutschland Mühe haben, Spiele zu gewinnen.
Sie erzählen in Ihrem Buch, wie Sie die WM 1978 in Argentinien als Kind vor dem Fernseher erlebt haben, 1986 folgte die nächste, und 1990 waren Sie erstmals live vor Ort. Wie war das erste Mal im Stadion?
1990 war ein Traum. Ich hatte nie gedacht, dass ich so früh bei einer WM sein würde. Ein Freund von der Uni kannte jemanden bei Mars, der Freikarten hatte. Viele der Sponsoren wollten nicht nach Italien reisen, aus Angst vor dem damals sehr ausgeprägten Hooliganismus und auch weil sich viele Sponsoren in Asien und Amerika damals überhaupt nicht für Fußball interessierten. Ich bin dann mit zwei Freunden hingefahren. Italien 1990 war wie ein Dorffest: viele leere Plätze, schlechte Organisation, aber auf nette Weise amateurhaft. Es war die einzige WM, die ich je als Fan besucht habe, nicht als Journalist. Das war etwas ganz Besonderes.
Frankreich 1998 war auch besonders für Sie, denn Sie verliebten sich in das Land, zogen nach Paris. Doch die Franzosen waren zunächst eher uninteressiert. Wie wurde aus Skepsis Ekstase?
Am Anfang war ich überrascht, wie wenig die Leute interessiert waren. Ich wollte das erste Spiel Schottland gegen Brasilien sehen, es sollte ein Public Viewing geben – dann gab es das doch nicht. In Kneipen konnte man selten ein Spiel sehen. In Paris fühlte es sich an, als gäbe es keine WM. Ich habe Spiele in einem Café geschaut, als einziger Gast, der sich für Fußball interessierte. Fußball galt in der französischen Mittelklasse als „Vorort-Sport“ und war wenig angesehen. Das war ganz anders als in Deutschland oder England, wo es diese männliche Fußballkultur gab, in der sich die meisten Männer auskannten und sich für Fußball interessierten. So war das damals in Frankreich überhaupt nicht. Das ist eigentlich erst später gekommen mit dem Wachstum der Vororte außerhalb von Paris und den migrantischen Bewohnern. 1998 explodierte die Begeisterung in ganz Frankreich erst beim Halbfinale Frankreich gegen Kroatien. Vier Tage später schauten über 20 Millionen das Finale – ein Rekord. Das Finale gegen Brasilien war aber auch perfekt. Darüber singen die französischen Fans noch heute. Und ab diesem Moment wurde Frankreich Fußballland, auch Dank der eben schon angesprochenen jungen Spieler aus den Banlieues. Seit 1998 hat Frankreich vier der letzten sieben WM-Endspiele gespielt.
Brasilien 2014 war auch ganz besonders: Strand, Seleção, 1:7. Für uns Deutsche eine ganz besondere WM, auch wenn es zunächst auch ein wenig skurril war, wie die Brasilianer sich da präsentiert haben, mit einer im Nachhinein eher mittelmäßigen Mannschaft. Immerhin sind sie das Fußballland Nummer 1. Wie war das für Sie: romantisches Erlebnis oder Ernüchterung?
Ich bewerte die WM als meine beste. Das habe ich damals auch so formuliert, und es steht auch in meinem Buch. Es ist ein fantastisches Land, gerade für ausländische Besucher, die ein wenig Geld mitbringen. Zudem kann eine WM mit Stränden doch nichts anderes als toll sein. In Rio, Fortaleza oder Salvador konnte man jeden Tag spazieren gehen, auch als Journalist. Die Brasilianer fieberten richtig mit, vor allem natürlich für ihre Seleção. Das habe ich in Südafrika, Frankreich oder Katar so nicht erlebt. Das 1:7 gegen Deutschland war das dramatischste Spiel der WM-Geschichte. Eine echte Überraschung. Aber Brasilien war an dem Tag ein offenes Scheunentor. Das trägt auch zu dem Drama dieser WM bei. Der Fußball war auch besser als bei den vorrangegangenen WMs. Deutschland hat Angriffsfußball gespielt. Es wurde insgesamt mehr angegriffen als vorher.
Natürlich erinnere ich mich auch noch sehr gut an dieses 7:1. Irgendwann hat man auch sehen können, dass die deutsche Mannschaft etwas die Bremse gezogen hat, denn im Grunde war Brasilien an dem Tag so von der Rolle, die hätten auch zweistellig verlieren können. Wie haben Sie das damals erlebt? Vor allem, da Sie Deutschland in Ihrem Buch als „Darth Vader der WM-Geschichte“ bezeichnen?
Für mich und viele Europäer war Deutschland Darth Vader und das war vielleicht bis 2002 so. Sie waren der Schurke, der die schönen Mannschaften tötete: Ungarn 1954, Holland 1974, Frankreich 1982. Wir fanden Deutschland hässlich mit hässlich spielenden Fußballern. Damit haben wir natürlich übertrieben, denn die Mannschaft 1974 zum Beispiel hatte ganz tolle, schön spielende Spieler. Auch in den 80ern und 90ern gab es Spieler wie Möller, Häßler, Matthäus, die ganz hervorragende Fußballer waren. Aber das konnten viele Menschen in Holland, England oder Frankreich nicht sehen. Deutschland war noch immer der Feind und das hatte natürlich auch mit der Verarbeitung des Krieges zu tun. Das änderte sich so richtig eigentlich erst mit Jürgen Klinsmann. Vorher hatten auch viele Deutsche ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Fußball, diese Erfahrungen habe ich immer wieder gemacht, wenn ich hier war. Ich nenne es ein wenig diese „Siegesscham“, das „hässlich“ Gewinnen, das hat viele Deutsche auch immer ein wenig geärgert. Die wollten lieber schön verlieren (lacht). Das änderte sich 2006. Nach Klinsmann kam dann Joachim Löw, der wollte den schönsten Fußball spielen. Und 2014 klappte beides.
Kritiker sagen auch, dass Löw eine einmalig hohe Talentdichte zur Verfügung hatte. Einige dieser Beobachter bemängeln allerdings auch, dass Deutschland dann zwar schöner gespielt hat, aber gleichzeitig diese Siegermentalität abhandengekommen wäre. Gibt es denn diese Art Siegermentalität wie in den 70ern und 80ern überhaupt noch?
In meinem anderen Buch „Football against the enemy - Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben“ gebe ich ein Interview wieder, das ich 1998 mit Jürgen Kohler geführt habe. Da sprachen wir über das EM-Halbfinale 1988 als er gegen Marco van Basten gespielt hat, der in diesem Spiel einfach etwas besser war und ihm dann einmal entwischt ist. Damals gab es noch Manndeckung. Holland gewinnt, zieht ins Finale ein und wird Europameister. Kohler wurde damals in der deutschen Presse wirklich niedergemacht und sehr stark angegriffen. In England hätte man gesagt: Na ja, der ist 23 Jahre alt, hat bis dahin sehr gut gespielt, hat das Halbfinale erreicht, das ist doch ganz gut.
Und van Basten war damals ein Weltklassespieler, einer der besten Stürmer überhaupt.
Genau, und Kohler kam dann einmal etwas zu spät, in einem Moment gegen den besten Stürmer der Welt. In den meisten Ländern hätte man gesagt, der Kohler ist ein sehr talentierter Spieler, Châpeau. In Deutschland war das nicht der Fall, denn in der deutschen Nationalmannschaft hatte man immer die allerhöchsten Anforderungen an die Spieler. Immer. Wir müssen gewinnen, wir müssen auch jedes Turnier gewinnen und wenn wir nicht gewinnen, sind wir gescheitert. Gut, die Brasilianer haben das immer ähnlich gesehen. So war Deutschland zwischen etwa 1970 und 1994. Da hatte man diese Mentalität. Die EM ‘92 gewinnen die Dänen, das ist dann für die Deutschen eine Katastrophe. Diese extremen Anforderungen, die an die Spieler gestellt wurden, haben auch dafür gesorgt, dass die Spieler Perfektionisten wurden, dass sie bis zur 93. Minuten gespielt haben, dass die Konzentration immer sehr hoch war. Dass sie, auch wenn sie schlecht spielten, das Gefühl hatten: „Wir müssen gewinnen!“ Diese Fähigkeiten, diese extreme Forderung an sich selbst, sind ein wenig verschwunden in der deutschen Mannschaft. Auch nach Löw. Denn Löw sagte nicht, wir müssen die Besten sein. Er sagte, wir müssen den schönsten Fußball spielen. Wir müssen den Idealfußball spielen, und das passierte dann 2014 und auch in den vergangenen Jahren noch ab und zu.
Seltener…
Aber ab und zu doch noch. Löw war nie jemand, der sagt, auch wenn wir schlecht spielen, müssen wir gewinnen. Und so war die Mentalität, die ein Jürgen Kohler hatte, eine völlig andere. Aber ich habe auch das Gefühl, dass das bei den deutschen Fans, den Medien, aber auch bei den Spielern anders geworden ist. Dieses Gefühl, immer gewinnen zu müssen. Das ist meine Wahrnehmung.
Meinen Sie, das stimmt?
Es kommt immer drauf an, mit wem man sich unterhält. Also mein Bruder zum Beispiel, der ist absoluter Fußballfanatiker, auch WM-Fan, hat alle Bücher, liest alles. Der sieht das eher anders. Ich denke mir auch manchmal, dass man es mal etwas lockerer sehen kann. Aber andererseits sehe ich, dass auch ein Joachim Löw, der ein sehr guter Trainer war, noch mehr hätte erreichen können mit diesem Pool an Spielern und Talenten. Aber 2014 war natürlich ganz besonders, auch mit dem Kantersieg gegen Brasilien und dem Titel. Das wird ewig mit ihm verbunden bleiben. Und bei dem Turnier war auch nicht jedes Spiel der deutschen Mannschaft gut. Aber so kann man auch keine WM gewinnen. Kein Weltmeister hat nur gute Spiele gemacht. Aber diese Lockerheit, die ist im deutschen Fußball auch wichtiger geworden.
Wenn Sie eine Aussicht auf die nächsten Turniere wagen, welche Gefühlslage haben Sie da? Werden Sie 2026 durch die Welt jetten, oder wie sind da Ihre Pläne?
Ja, ich hoffe es. Lust hätte ich auf jeden Fall. Das hängt immer von meiner Zeitung ab, ob die mich dahin schickt, ob das funktioniert. Also ich habe bisher aber nichts anderes gehört und hoffe, dass ich meine zehnte WM erleben darf. Aber Mexiko, USA und Kanada zusammen, das ist viel zu groß. In Katar habe ich am Anfang pro Tag zwei Spiele gesehen, weil dort alles so klein war. Ich hoffe, dass ich dann irgendwo vielleicht in Mexiko stationiert sein werde.
Das einzige im traditionellen Sinne „echte“ Fußballland der drei.
Ja und ich war noch nie da. Für mich ist eine WM auch ein Mittel, die Welt kennenzulernen. Und für mich wäre ein Aufenthalt in Mexiko sehr schön.
Das Aztekenstadion zum Beispiel. Vielen Dank, Herr Kuper!
Simon Kupers neues Buch heißt „Die größte aller Partys“ und ist bei Edel Sports erschienen.