Ausstellung

Alle Schönheit ist nackt

Von Detlef Hartlap
Michelangelos "David"-Statue in der Galleria dell'Accademia in Florenz.
Michelangelos "David"-Statue in der Galleria dell'Accademia in Florenz. Fotoquelle: lornet/shutterstock.com

Die Frage nach dem Künstlergott der Renaissance wird in Bonn beantwortet: Michelangelo ist es! Notizen zu einer Ausstellung.

1. Aufträge sind des Künstlers Brot. Der Auftrag von Papst Julius II., die Sixtinische Kapelle in Rom in ein Deckenpanorama der Heilsgeschichte zu verwandeln, hätte den 33 Jahre alten Michelangelo Buonarroti in Entzücken versetzen müssen. Zumal als Belohnung 3„000 Dukaten winkten, was sich schwer in einen exakten Gegenwert heutiger Tage übertragen lässt. Nur so viel: Dafür müssen selbst Vorstandsvorsitzende von Automobilkonzernen etliche Jahre schuften.

Was aber macht Michelangelo? Er liegt verdrossen und verzweifelt rücklings auf einem 20 Meter hohen Gerüst und die Farbe, die an der schimmelnden Decke nicht haften will, dröppelt ihm in den Bart.

"Mir wächst ein Kropf in dieser Falle, in die ich geraten bin", schreibt er seinem Freund Giovanni da Pistoia. "Meine Malerei ist tot. Ich bin erledigt. Giovanni, Freund, entferne diesen Makel von meiner Ehre. Ich bin an keinem guten Ort. Ich kann nicht malen."

Glanz und Gloria der Sixtinischen Kapelle, des Allerheiligsten der katholischen Christenheit, standen damals auf der Kippe, im Dezember des Jahres 1508, als Michelangelo mit klammen Fingern malte und sich nach seinem Marmor und ehrlicher Bildhauerarbeit zurücksehnte. Denn Steine waren sein Metier.

2. Selbstzweifel sind des Gelingens Grundlage. Wann wären Zaudern und Zagen einer Künstlerseele dem vollendeten Kunstwerk je anzusehen gewesen? Michelangelo gehörte zu jenen Glücklichen, denen die Anerkennung von Fürsten, Gönnern und Päpsten in nahezu jeder Lebensphase zuteilwurde, egal wie stark er an sich zweifelte.

"Wir glauben nicht, dass es heute in Europa einen Menschen gibt, der ihm gleichkommt", schrieb die Marchesa Malaspina Soderini über Michelangelo. Der Literat Antonio Francesco Doni wandte sich direkt an den Künstler: "O göttlicher Mann, alle Welt hält Euch für ein Orakel, indem aus Eurem Verstand so berühmte Werke entstehen." Und die Markgräfin Vittoria Colonna jauchzte: "Der Erzengel Michael wird Euch, Michael Angelo, am Jüngsten Tag zur Rechten des Herrn setzen."

3. Das Göttliche ist eine Frage der nackten Gestalt. Michelangelos Bildnisse, ob in Marmor geschlagen oder auf Karton gezeichnet und später ausgemalt, müssen ein Albtraum für Modeschöpfer und all jene sein, für die sich der Mensch erst kunstvoll verschalen muss, um als Mensch zu gelten.

Michelangelos bahnbrechende Talentprobe, der "Bacchus" von 1496, torkelt dem Betrachter splitternackt entgegen und hebt in seiner offensichtlichen Trunkenheit den Becher: Salute! Das war besser, viel besser als die Vorbilder der alten Griechen, auf die sich die Kunst der Renaissance berief. Unter Michelangelos Hand war dem Stein ein gewiss hübscher, aber in jungen Jahren schon zur Verweichlichung neigender Mensch abgewonnen worden. Eine widersprüchliche, dramatische Gestalt.

Als 1504 vor dem Palazzo Vecchio in Florenz die kolossale Aktstatue "David" enthüllt wird, das Bildnis männlicher Vollkommenheit, und die kunstverständigen Florentiner vor Begeisterung überschnappen, darf sich Michelangelo als "erhabenes Genie" feiern lassen. Quasi unter den Augen des 23 Jahre älteren Leonardo da Vinci. Der Autor und Maler John Berger schreibt: "Bei Michelangelos 'David' wird das Geschlecht zum Mittelpunkt des Körpers, und jedes andere Körperglied muss sich ihm unterwerfen."

Nackt auch Michelangelos "Nacht" und "Morgen", die für einen Dichter wie Gabriele D'Annunzio von "ungeheurer, ebenso tragischer wie unersättlicher Sinnlichkeit" sind.

Nackt, zu weiten Teilen, auch Michelangelos "Jüngstes Gericht", eine genial strukturierte Massenszene, bei der einzig der aus den Niederlanden stammende Papst Hadrian die Nase rümpfte und despektierlich etwas von "Nacktbad" murmelte. John Berger ist dieses Jüngste Gericht unheimlich: "... es gibt kaum einen Unterschied zwischen Erretteten und Verdammten. Es ist, als hätte Gott die Menschen der Natur überlassen."

4. Wenn Giganten streiten, springt der göttliche Funke nicht über. Einmal, bald nach der Enthüllung des "David", machten sich die Florentiner einen Spaß daraus, Michelangelo im direkten Vergleich gegen Leonardo antreten zu lassen. Eine Seite im Ratssaal des Palazzo della Signora gestaltete da Vinci mit einem Bildnis der Anghiari-Schlacht (die Florenz gewonnen hatte).

Auf der anderen Seite inszenierte Buonarroti die Cascina-Schlacht (die Florenz ebenfalls gewonnen hatte). Am Ende kamen sie beide nicht zu Potte. Leonardo schuf eine Orgie von Pferdeärschen, und noch bevor er fertig wurde, lockte ihn ein Auftrag nach Mailand.

Michelangelo lässt sich gar nicht erst auf die Schlacht ein, sondern zeigt den Moment davor – die vom Angri des Feindes beim Baden überraschten und deshalb nackten Soldaten, die sich nun blitzschnell in ihre Klamotten werfen müssen.

Auch das kam über das Stadium des Kartons nicht hinaus, das heißt einer Vorzeichnung im Maßstab 1:1. Michelangelo musste plötzlich dringend nach Rom.

5. Auch ein Hitzkopf kann perspektivisch denken. Sosehr Michelangelo zu Kraftausdrücken, Jähzorn und Handgreiflichkeiten neigte (seine platte Nase rührte von einer Auseinandersetzung in der Jugend her), so musste er als Bildhauer, der er war, seine Skulpturen vorausblickend planen. Der Meißel ertastet, wohin die Reise gehen soll, jeder Hammerschlag muss sitzen. Gemälde können korrigiert, können übermalt werden, der Stein verzeiht nicht. Ein ewiger Kampf. Der Markgräfin Colonna schreibt er seufzend: "Die Kunst versagt mir stets, wonach ich glühe."

Da ist sie wieder, die Unsicherheit des Genies vor dem Streich, das Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber der eigenen Vision. Dabei hat niemand vor oder nach Michelangelo die Skulpturen- und Bilderwelt mit so viel Aktion, Energie und prallem Leben erfüllt. Er ließ die Antike, der er doch nachzueifern trachtete, alt aussehen.

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