Weltbuchtag

Das Hirn liest mit

Von Marcus Italiani
Lesen birgt viele Vorteile, wie ein Neurowissenschaftler erklärt.
Lesen birgt viele Vorteile, wie ein Neurowissenschaftler erklärt. Fotoquelle: Gettyimages/ CommerceandCulture Agency / Alisa Zahoruiko

Diplom-Psychologe und Hirnforscher Dr. Hans-Georg Häusel beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Themen wie „Neuromarketing“ oder „Neuromanagement“. Warum unser Gehirn auf Printprodukte anders reagiert als auf digitale Medien und warum das letzte Kapitel der Erfolgsgeschichte Buch noch lange nicht geschrieben ist, erklärt er im prisma-Gespräch.

Übrigens: Hier finden Sie die literarischen Empfehlungen der prisma-Redaktion!

Herr Dr. Häusel, man hört aktuell nur noch wenig vom E-Book. Woran liegt das?

Die Menschen haben festgestellt, dass das E-Book zwar Vorteile hat – vor allem, wenn man unterwegs ist; aber das Lesevergnügen des E-Books ist im Vergleich zum Papierbuch doch eingeschränkt. Und dann kommt es noch darauf an, was man liest. Wissenschaftliche Bücher kaufe ich mir beispielsweise grundsätzlich als Papierexemplar. Einmal, weil man auf Papierseiten leichter Anmerkungen machen kann, aber auch, weil dem Papier eine Magie innewohnt, die für andere Hirnaktivitäten sorgt als ein Laptop oder ein E-Book.

Könnten Sie das mit einem Beispiel belegen?

Wir haben mal eine große Untersuchung zu dem Thema gemacht, in deren Rahmen wir Leuten eine Zeitschrift in Papierform gegeben und ihnen dieselbe Zeitschrift als digitale Variante zur Verfügung gestellt haben. Die Papiervariante wurde wesentlich intensiver genutzt. Und das hat Gründe: Allein das Medium Zeitschrift sorgt für ganz andere Hirnaktivitäten als ein digitales Produkt. Buch heißt für die Leser, dass ich mich hinsetze und entspanne – das Gehirn schaltet in den Relax-Modus. Ein Tablet oder Handy hingegen aktiviert den Goal-und-Excitement-Modus. Ich möchte direkt etwas tippen, Interaktion haben. Und das ist das Gegenteil von Ruhe.

Also könnte man sagen: Papier gleich Entschleunigen – digitales Medium gleich Beschleunigen?

Das bringt es auf den Punkt. Genauso ist es.

Würde das nicht bedeuten, dass der Freizeitwert des Lesens durch digitale Medien eingeschränkt wird?

Das kommt darauf an, was man als Freizeitwert betrachtet. Auch Horrorfilme haben einen Freizeitwert für jemanden, der den Nervenkitzel sucht. Wenn Freizeitwert für mich also bedeutet, dass ich aktiviert werden möchte und daran auch Spaß habe, dann ist das vollkommen in Ordnung. Aber wenn ich zur Ruhe kommen möchte, dann tendiere ich doch eher zum Buch. Es sind unterschiedliche Arten der Freizeitgestaltung.

Sie sagen, dass Gehirn funktioniert nach dem Prinzip mehr ist mehr. Warum tun sich trotzdem so viele Menschen so schwer, viele Inhalte über das Lesen aufzunehmen und schwenken auf bewegte Bilder oder Audio-Erlebnisse um?

Man braucht keine Angst zu haben, dass das Gehirn beim Lesen platzt. Es arbeitet nur nicht so gerne mit großem Energieaufwand. Dafür braucht es eine Belohnung. Das heißt, es fängt an zu denken, wenn die Texte einfach, unterhaltsam, stark bebildert und spannend sind.

Das Gehirn ist also auf Belohnungen aus, die ihm natürlich von digitalen Geräten mit ihrer impliziten Handlungsaufforderung permanent suggeriert werden. Ist das etwas Positives oder eher Suchtgefährdendes?

Das kommt auf die Persönlichkeit und das Alter an. Das Kinder- und Jugendgehirn braucht immer den Kitzel, ständig Neues aufzunehmen, während ältere Gehirne das nicht mehr in diesem Maße benötigen, sondern eher Ruhe. Zudem gibt es unterschiedliche Persönlichkeiten. Menschen, die ein starkes Neugierde-System haben, sind oft unruhig und brauchen das Getippe auf Endgeräten wie Handys in ihrer Freizeit, während Leute, die im Harmonie- oder Balanceteil ihren Schwerpunkt haben, nach Medien suchen, die Ruhe vermitteln.  

Was müssen Verlage in Zukunft tun, damit ihre Print-Produkte relevant bleiben?         

Man muss unterscheiden, ob man in der Belletristik, im Sachbuch oder im Management-Wirtschaftssektor unterwegs? Eine Zielgruppe unter 40 ist anders sozialisiert und liest nicht so gerne Bücher, vor allem nicht, wenn sie nur aus Text bestehen. Für Verlage bedeutet das, die Haptik und Aufmachung bei belletristischen oder Sachbüchern müssen schön sein, die Schrift darf nicht zu klein sein, es muss viele Absätze geben, eine hirngerechte Sprache ohne Schachtelsätze muss verwendet werden, ohne dass der Gehalt kaputtgeht. Im Managementbuch brauche ich das weniger, weil ich da ja aktiv auf der Suche nach bestimmten Ergebnissen bin.

Sie raten dazu, Bücher und digitale Medien in der Schule pädagogisch intelligent zu verknüpfen. Wie sähe eine solche Verknüpfung aus?

Man muss einfach sehen, dass man das ganz tiefe, konzentrierte Lernen in der Regel mit dem Tablet nicht hinbekommt. Wenn man Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ auf dem Tablet liest, dann verursacht alleine das digitale Medium einen solchen Aufruhr im Gehirn, dass man sich nicht mehr so stark konzentrieren kann. Das Tablet hat aber auf der anderen Seite den großen Vorteil, dass man individuell Feedback erhält. Die Kinder können in der Schule alleine arbeiten, sich einen Grundstock aneignen – das geht alles, teilweise sogar besser als mit einem Buch, das manchmal ein träges Instrument ist. Wenn es aber darum geht, tiefer einzutauchen, einen Gegenstand zu durchdringen und die Aufmerksamkeit zu schulen, dann ist das Buch dem Tablet immer überlegen. Deshalb sage ich: Arbeitet mit beidem und überlegt euch, was ihr wofür verwenden wollt.    

Vor allem Kinder und Jugendliche besitzen abseits der Schulbücher kaum noch Printmedien.

Es ist nicht so, dass alles zugrunde geht, weil Kinder digital unterwegs sind. Ähnliche Weltuntergangsszenarien gibt es bereits, seit Platon die Schrift kritisierte. Und auch dem Fernsehen wurde bei seinem Aufkommen unterstellt, die Menschen zu verdummen. Fakt ist: Im Alltäglichen braucht man das ganz tiefe Textverständnis nicht. Aber es wäre schade, wenn man diese bestimmte Möglichkeit der Konzentration verlöre – und auch das Medium Buch, das wie erwähnt auch andere Vorteile im Bereich der Freizeitgestaltung mit sich bringt. Man stellt auf der anderen Seite zudem auch fest, dass Kinder, die in ihrem Elternhaus Bücher vorfinden, mehr Erfolg haben als solche, die dem Kulturbuch gar nicht begegnen.

Dennoch verliert der Text gegenüber dem visuellen Anreiz, der vor allem als Bewegtbild ja in digitalen Medien besser zur Geltung kommt. Und das auch in Schulbüchern, in denen Texte nicht selten mit stark komprimierten digitalen Inhalten verlinkt sind. Oder auch Lektüren, die in Videos zusammengefasst und aufbereitet werden, damit man sie nicht mehr lesen muss.

Das ist ja ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang. Wir sind darauf aus, jegliche Art der Anstrengung zu vermeiden. Und damit ist natürlich auch geistige Anstrengung gemeint. Nehmen Sie Fastfood. Wir essen vorgekochte Nudeln und anderen Kram, nur weil es schnell geht, alles ist voller Zucker, die Menschen werden immer dicker. Und das zieht sich durch alle Gesellschaftsbereiche. Wir werden bewusst immer fauler. Schon Konrad Lorenz hat vor 50 Jahren gesagt: Der Mensch ist nicht mehr fähig in der Natur zu überleben. Die Frage lautet nur: Muss er das überhaupt?

Na ja, wir haben ja in den letzten tausend Jahren alles getan, um aus der feindlichen Natur herauszukommen.

Ganz genau. Dafür finden die Jugendlichen Zugang zu anderen Bereichen wie künstlicher Intelligenz. Mein Mathelehrer hat früher gesagt, wenn man die Wurzel nicht mit der Hand ausrechnen kann, dann wird man im Leben untergehen. Davon spricht kein Mensch mehr. Man muss das auch ein wenig kulturrelativ sehen.

Legen wir in unserer Gesellschaft grundsätzlich zu viel Wert auf Technik und Naturwissenschaften, die das Lesen nicht als Belohnung, sondern nur als Transportmittel begreifen?

Es ist nun einmal so, dass in unserer kapitalistischen Gesellschaft mehr Wert auf Naturwissenschaften gelegt wird. Aber dennoch sind die geisteswissenschaftlichen Fächer an den Universitäten gut belegt, daher würde ich nicht sagen, dass die Welt in dieser Hinsicht verloren ist.

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