22.06.2014 Eine kleine Geschichte des Selfies

Wer sich liebt, knipst sich

Von Detlef Hartlap
Waren wir gut drauf! Ein Selfie ist immer mit "gute Laune" verbunden.
Waren wir gut drauf! Ein Selfie ist immer mit "gute Laune" verbunden. Fotoquelle: Monkey Business Images/shutterstock.com

Der Siegeszug des Selfies und der Wahn von Inszenierungen

Nehmen wir die Malerei. Seit Jahrhunderten sind Maler damit beschäftigt, sich selbst abzubilden. Aus Eigenliebe, aus Mangel an Modellen, zur Kontrolle: Wie sehe ich aus? Wer bin ich? Wie weit ist mein Verfall fortgeschritten? Trotzdem ist bisher kein Mensch auf die Idee gekommen, Rembrandts berühmte Selbstporträts als "Selfie" zu bezeichnen.

Oder nehmen wir die Fotografie. Seit es sie gibt, ungefähr 175 Jahre, existieren Selbstporträts. Im Herbst 1839 nahm ein Robert Cornelius sich selbst auf. Das Foto wird in der Bibliothek des amerikanischen Kongresses wie ein Schatz gehütet.
Niemand hat je "Selfie" dazu gesagt. Mit anderen Worten, Selfies sind uralt, und doch wirken sie wie neu erfunden, wie Kobolde, die vor Kurzem aus dem Handy gesprungen sind.

Ursprung in Australien

Alle lieben sie wie sich selbst. Das Wort Selfie kam vor zwölf Jahren in Australien auf und verbreitete sich wie ein Buschbrand. 2013 wurde es vom Oxford Dictionary zum englischen Wort des Jahres bestimmt; reichlich spät in Anbetracht der Abermilliarden Selfies, die bis dahin geschossen worden waren. (Im Duden findet es sich noch gar nicht.)

Das Fabrizieren von Selfies ist Kunst am ausgestreckten Arm. Handy auf Armlänge von sich gehalten, Zähne entblößt,  Augen aufgerissen, Grimasse geschnitten – klick. Zum Selfie gehört das Gutdraufsein. Es ist gleichsam eingebaut: Wir auf der Kegelbahn; ich mit Schürze beim Grillen; wir mit LEBENSART Schweini auf dem Oktoberfest; ich mit Uschis blau-grüner Perücke ...

Zum Selfie gehört immer auch Partystimmung. Anders als auf den quälend aufrichtigen Selbstporträts von Rembrandt oder Lucian Freud regiert auf Selfies der Anschein, hier schwebe jemand gerade auf Wolke 7. Geht man nach Selfies dieser Welt, befindet sich die Menschheit im Glücksrausch. Aditya Khosla, ein Doktorand an einem Institut für Kunst und Computerwissenschaften in Kalifornien, hat 2,3 Millionen Selfies ausgewertet, die auf dem Bilderportal Flickr veröffentlicht wurden. Seine Erkenntnis: Selfies sind dann erfolgreich (heißt, sie werden gesehen und weiterverlinkt), wenn sie a) viel Haut zeigen, wenn sie b) Rot-, Gelb- und Orangetöne bevorzugen und c) orginelle Titel haben.

Nicht wirklich spontan

"Angie in Umkleidekabine" ist besser als "Kanzlerin gratuliert der deutschen Nationalmannschaft". Das entsprechende Foto, das nach dem WM-Spiel der Deutschen gegen Portugal mit dem Handy von Lukas Podolski geschossen wurde, war alles andere als spontan. Tatsächlich trägt die gut beratene Kanzlerin einen roten Blazer und sieht, wie die Frankfurter Allgemeine hüstelte, in der freigegebenen Version des Bildes "um schätzungsweise ein halbes Menschenalter geliftet" aus. Die Zufälligkeit des Selfies ist eine scheinbare. In seinen bekanntesten Ausgeburten des Inszenierungswahns, der in Politik, Show und Business gang und gäbe geworden ist. Auch jenes Hollywood-Familienfoto, das ein Dutzend Stars in vertragsgemäß ausgelassener Stimmung nach der Oscar-Verleihung 2014 zeigt, wurde von Samsung arrangiert und mit drei Millionen Dollar honoriert.

Selbst dass sich ein unbekannter Schwarzer in die erste Reihe "schmuggelte", wie zu lesen war, kam nicht zufällig: Der Bruder von Lupita Nyong'o ("12 Years a Slave") wurde aus Paritätsgründen ins Bild und vor Angelina Jolie geschoben; man brauchte einen männlichen Schwarzen. Mag das Selfie der alltäglichen Selbstbespiegelung ein vergleichsweise harmloses
Vergnügen sein, so hat es doch Kulturkritiker auf den Plan gerufen, die ein neues Zeitalter der Egozentrik aufziehen sehen, mit negativen Folgen für Gemeinsinn und Zivilcourage.

#foodporn - das Foto vom Essen

Tatsächlich dürfte die Braut, die vor dem Ja in der Kirche noch schnell ein Foto von sich und ihrem Künftigen knipst, nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schon jetzt lichten viele Leute im Restaurant das Essen ab, bevor sie es verputzen: Ich, der ich mir diese Mahlzeit leiste ...

Im Selfie erlebt der Narzissmus, die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt, seinen ultimativen Rausch. Andererseits scheinen wir ohnehin von einer Ego-Epoche in die nächste zu geraten. George Harrison prangerte das Anfang der Siebzigerjahre in seinem Song "I, Me, Mine" an. Der Schriftsteller Tom Wolfe rief die "Me-Decade" aus, das Ich-Jahrzehnt. Bald sollte die Stunde von Botox und der teuren Schönheits-OPs schlagen. Da waren Handy und Selfie noch nicht erfunden.

Narziss übrigens, der mythische Namensgeber der Selbstverliebtheit, ist an dieser Entwicklung unschuldig. Als er sich über das Wasser beugte und sich in sein Spiegelbild verknallte, erkannte er sich nicht. Er dachte, es handle sich um einen anderen. Hätte ihm, dem schönen Jüngling, ein Handy zu Gebote gestanden, wäre ihm der Irrtum sicher aufgefallen.

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