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"Polizeiruf 110: Hermann" – die nichtvergangene Vergangenheit

von Maximilian Haase

Eine Bauingenieurin wird unter Bauschutt gefunden. Der Mord an der Frau weitet sich im neuen "Polizeiruf" zum Fall mit historisch-politischer Tragweite aus: Wem gehören die von den Nazis enteigneten Häuser jüdischer Besitzer?

ARD
Polizeiruf 110: Hermann
Krimi • 05.12.2021 • 20:15 Uhr

"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen", zitierte die Schriftstellerin Christa Wolf in ihrem Buch "Kindheitsmuster" einst William Faulkner – und fügte an: "Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd". Die ostdeutsche Autorin bezog sich 1976 auf das damals verschütt liegende Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus; an die Weigerung der Deutschen, sich der Schuld zu stellen. 45 Jahre später hat sich zwar längst eine reflektiertere Erinnerungskultur etabliert – doch hat das "Abtrennen" zugleich noch Konjunktur. So auch in der Frage nach den Restitutionsansprüchen der Nachkommen jüdischer Hausbesitzer, die von den Nazis enteignet wurden. Eine sensible Thematik, zumal für einen Krimi: Der neue "Polizeiruf 110: Herrmann" traut sich dennoch – und verknüpft gekonnt einen gegenwärtigen Mord mit der nichtvergangenen Vergangenheit.

Ermordet aufgefunden wird – unter Bauschutt liegend – die Bauingenieurin Daniela Nowak. Kommissar Adam Raczek nimmt die Ermittlungen auf, muss dafür aber diesmal aus Frankfurt/Oder ins 50 Kilometer entfernte Cottbus reisen. Dort nämlich hatte das Opfer auf einer Baustelle für einen Immobilieninvestor (Sven-Eric Bechtolf als Karl Winkler) gearbeitet, an dessen groß angelegtem Bauprojekt ungeklärte Restitutionsansprüche hängen. Die komplexe Gemengelage aus juristischen und moralischen Fragen nach Schuld, Verdrängung und Wiedergutmachung, dazu noch verquickt mit der Geschichte der sich als "antifaschistisch" begreifenden DDR, versteht der Krimi auf feinfühlige Weise zu entzerren. Mit dem Israeli Dror Zahavi, der 1982 in den sozialistischen deutschen Staat übersiedelte, heute in Berlin lebt und in den letzten Jahren einige "Tatort"-Folgen inszenierte, fand man dafür einen Regisseur, wie er passender kaum sein könnte.

Ein Glücksgriff sind auch die beiden Episodenhauptrollen, übernommen von zwei ebenfalls aus Israel stammenden Schauspielern: Dov Glickman, bekannt geworden durch die Serie "Shtisel", spielt den 82-jährigen Zvi Spielmann, dessen Vater einst das heute umstrittene Cottbusser Haus baute. Zvi wuchs als Kind dort auf – bevor er mit seiner Familie ins Konzentrationslager kam. Er überlebte als Einziger und zog nach der Befreiung nach Israel. Von dort nun holt ihn seine Tochter Maya, verkörpert von der seit 2012 in Berlin lebenden und am Maxim-Gorki-Theater bekannt gewordenen Orit Nahmias, um die Besitzverhältnisse der Immobilie in Deutschland vor Ort zu klären. Dafür, so ergeben die Ermittlungen, verabredeten sich Vater und Tochter mit der später getöteten Novak; sie soll historische Dokumente zur Klärung der Ansprüche besessen haben.

Anspruch auf Besitz des Hauses erhebt auch Elisabeth Behrend (Monika Lennartz), die ebenfalls dort aufwuchs – und als Kind mit Zvi sogar befreundet war. Auf der einen Seite das Mädchen, das vom Nationalsozialismus über die gesamte DDR-Zeit bis heute in dem Haus lebt, auf der anderen Seite der Junge, dessen Familie ausgelöscht und der im jüdischen Staat erwachsen wurde – allein diese Konstellation wäre mehrere Serienepisoden wert. Im "Polizeiruf" wird sie (verständlicherweise) nur angeschnitten, die Vergangenheit der Alten vom gegenwärtigen Konflikt der Jüngeren überlagert. Elisabeths Sohn (Jakob Heiko Raulin) schickt Maya etwa mit den Worten weg, sie habe hier nichts zu suchen. Seiner Mutter versichert er, sie könne natürlich in ihrer Wohnung bleiben. "Ich bin hier geboren", sagt die Alte, "ich will auch hier sterben".

Ein heikler Fall für die Ermittler

Da auch die Behrends Belege für den rechtmäßigen Anspruch auf das Haus vorlegen können, stellen sich Raczek so manche Fragen: Wer lügt hier? Welche Rolle spielte das spätere Opfer? Und welche der etwas klischeehaft gezeichnete Investor? Der Fall erweist sich als überaus heikel – zumal der Ermittler nicht nur mit der deutschen Geschichte, sondern auch mit seiner eigenen konfrontiert wird: In Cottbus, wo der ARD-Krimi auf dem örtlichen Filmfestival übrigens kürzlich bereits seine Premiere feierte, holt ihn seine Vergangenheit ein. Während ihn seine ehemalige Kollegin Alexandra Luschke (Gisa Flake) bei den Ermittlungen unterstützt, steht ihm sein grummeliger Ex-Chef (Bernd Hölscher) geradezu ablehnend gegenüber. Die Rückkehr in die Stadt in der Lausitz gerät für Raczek nervenaufreibend – aber auch zum Running Gag: "Hat sich ja nicht viel verändert", stellt er fest – "Was hast du erwartet? Blühende Landschaften?", erwidert Kollegin Luschke spöttisch.

Auch so manche von Mike Bäuml ins Drehbuch geschriebene Unterhaltung des jüdischen Vater-Tochter-Gespanns wirkt eindrücklich nach: Den deutschen Ausdruck "Am Arsch" werde er nie vergessen, sagt der Holocaustüberlebende Spielmann, Das nämlich hätten die SS-Leute im Lager gesagt, bevor sie ausgepeitscht hätten. "Deutsche Polizei. Da gehst du nicht alleine", warnt er an anderer Stelle Maya, als die Ermittler sie vorladen. "Deutschland hat sich geändert", glaubt seine Tochter. Dass daran bisweilen auch nach über 80 Jahren Zweifel aufkommen, zeigt so mancher Moment im Film – so wie in der Realität. "Man stiehlt uns, was uns zusteht", sagt Zvi Spielmann in einer Szene, "zum zweiten Mal". Auch, wie Raczek die Verfolgung seiner eigenen polnischen Familie durch die Nazis ins Verhältnis setzt, ist für einen "Polizeiruf" aller Ehren wert.

Dass die Vergangenheit eben mitnichten vergangen ist, das erkannte nicht nur Christa Wolf, sondern vor ihr auch Walter Benjamin. Der Philosoph, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, schrieb einst vom "Engel der Geschichte, der mit dem Rücken voran in die Zukunft geht, während sich vor ihm der Schutt der Vergangenheit aufhäuft." In diesem sehenswerten "Polizeiruf" wird dieser Schutt – bisweilen wortwörtlich – sichtbar.

Polizeiruf 110: Hermann – So. 05.12. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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