Oleg Denisov im Interview

Russischer Comedian Oleg Denisov berichtet: So ist die Situation in seiner Heimat

25.03.2022, 09.58 Uhr
von Maximilian Haase

Der russische Comedian Oleg Denisov hat nach dem Angriff auf die Ukraine sein Heimatland in Richtung Berlin verlassen. Zuletzt war er im ZDF-Format "Die Anstalt" zu sehen. Im Interview spricht er über die Situation für kritische Künstler in Russland, die aktuelle Stimmung im Land und darüber, warum Comedy für ihn gerade jetzt besonders wichtig ist.

Noch kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stand Oleg Denisov in Moskau auf der Bühne und verurteilte den von Wladimir Putin gestarteten Krieg. Wenige Tage später – von einem "Krieg" durfte man in Russland nun bei Strafe nicht mehr sprechen – verließ der Comedian sein Heimatland mit einem der letzten Flugzeuge in Richtung Deutschland. Bei seinem ersten Auftritt hierzulande im ZDF-Satireformat "Die Anstalt" zeigte der Stand-Up-Komiker auf bitter-humorvolle Weise die Zustände im Land auf. Seinen Vortrag schloss  er mit den Worten "Fuck the war". Ein Video seines Auftritts ist in der ZDF-Mediathek zu sehen.

Wie die Stimmung unter seinen russischen Kolleginnen und Kollegen aktuell ausschaut und was es heißt, als kritischer Entertainer in Russland Stellung gegen Putin zu beziehen, berichtet der Comedian in diesem Interview.

prisma: Wann haben Sie beschlossen, Russland zu verlassen?

Oleg Denisov: Ich habe nie beschlossen, Russland zu verlassen, und ich fühle mich sehr unwohl in einer Situation, in der plötzlich von mir erwartet wird, dass ich eine Entscheidung treffe – gehen oder bleiben. Anfang des Jahres habe ich ein Visum für Freiberufler in Deutschland beantragt, aber es ging nie darum, "für immer wegzugehen", da ich mich als kosmopolitischen Menschen und internationalen Künstler betrachte. Die Idee war, nach Berlin umzuziehen, wo es mehr kreative Möglichkeiten gibt, in der EU zu schreiben und aufzutreten, internationale Shows mit russischen Künstlern zu fördern und weiterhin mehrmals im Jahr große Projekte in Russland zu machen. Aber es gab nie den Plan, für immer zu gehen.

prisma: Wie würden Sie die Stimmung im Land kurz nach Kriegsbeginn beschreiben?

Denisov: Viele Menschen, die ich kenne, sind deprimiert und verängstigt – vor allem die Unter-40-Jährigen, die in Großstädten leben. Viele Menschen fliehen aus dem Land – zumindest bis der Krieg vorbei und eine Art Status quo erreicht ist. Es ist schwer zu sagen, was andere wirklich fühlen. Statistiken ist in einer solchen Situation nicht zu trauen. Ich glaube nicht, dass die meisten Russen den Krieg so aktiv unterstützen, wie es die Umfragen vermuten lassen. Zunächst einmal kann man ihn gar nicht als "Krieg" bezeichnen und sich deshalb auch nicht für den Frieden einsetzen, wie ich bei meinem Auftritt bei der "Anstalt" versucht habe zu skizzieren. Die Propaganda erzeugt ein völlig anderes Bild von dem, was vor sich geht – und jetzt hat der Staat seine Bemühungen massiv verstärkt, alle alternativen Informationsquellen abzuschneiden. Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Angriff erklären sich also vor allem durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse. Realität ist jedoch, dass viele Russen der älteren Generationen und Menschen, die nicht in Großstädten leben, die Version teilen, die sie in den staatlichen Medien sehen.

prisma: Wie offen konnten Sie Putin, seine Politik – und zuletzt auch den Krieg – auf der Bühne kritisieren?

Denisov: Bis vor kurzem war der Konsens für Entertainer ziemlich klar: Auf der Bühne konnte man sagen, was man will; auf YouTube konnte man größtenteils sagen, was man will – obwohl es einzelne Präzedenzfälle gab, in denen eine bestimmte Organisation wie die Kirche oder eine hochrangige Person Anstoß daran nahm und es zu einer Angelegenheit für die Polizei und das Gericht wurde. Und wenn man im Fernsehen auftreten wollte, gab es einen klaren Filter für das, was man sagen durfte oder nicht. Gleichzeitig rissen selbst etablierte TV-Komiker bei Live-Shows ein paar politische Witze, um dem Publikum zu zeigen, dass sie auf der gleichen Seite stehen und in der gleichen Realität leben – ohne dass dies ihre Fernsehkarriere oder ihre Auftritte in den sozialen Medien beeinträchtigt hätte.

prisma: Wie sieht die Situation heute aus?

Denisov: Jetzt scheint sich dieser "Gesellschaftsvertrag" zu ändern, und zwar nicht nur für Komiker, sondern für alle Kreativen: Für ein "Nein zum Krieg"-Posting in den sozialen Medien werden sogar Top-Schauspieler "gestrichen". Mit dem neuen Gesetz kann man strafrechtlich verfolgt werden, wenn man vom "Krieg" spricht. Die Kritik an der russischen Militäraktion in der Ukraine ist nun also komplett verboten. Die Folgen wären im besten Fall die Unmöglichkeit, weiter in der Branche zu arbeiten – und im schlimmsten Fall die strafrechtliche Verfolgung.

prisma: Hatten Sie in den vergangenen Jahren Repressionen zu befürchten – und Angst vor Verfolgung?

Denisov: Ich persönlich hatte nie Probleme mit dem Gesetz in Bezug auf meine Auftritte – und die absolute Mehrheit der Comedians auch nicht. Es schien jedoch nur eine Frage der Zeit zu sein. Im Jahr 2021 tauchten einzelne Fälle auf, in denen Comedians strafrechtlich verfolgt wurden, Auftritte abgesagt wurden und so weiter. Vor den aktuellen Ereignissen waren jedoch alle noch der Meinung, sie könnten sich an den beschriebenen "Vertrag" mit dem Staat halten, so dass sich die Haltung der Komiker nicht ernsthaft geändert hat.

prisma: Würden Sie also sagen, die Situation und die Arbeitsbedingungen für kritische Entertainer und Komiker hat sich in den letzten Jahren unter Putin zum Schlechteren entwickelt?

Denisov: Natürlich war die Atmosphäre während der ersten beiden Amtszeiten Putins und unter Medwedew viel freier. Und obwohl es besorgniserregende Anzeichen gab, sah es so aus, als würde die natürliche Entwicklung der Unterhaltungsindustrie dazu führen, dass starke satirische und politische Stimmen auftauchen würden. Aber um ehrlich zu sein, scheint alles, was vor 2012 bis 2014 geschah, jetzt ein bisschen eine andere Ära zu sein. Es wäre also ein Fehler, den Oberbegriff "unter Putin" zu verwenden. Die Struktur des Staates und der Gesellschaft war eine ganz andere – oder schien es zumindest zu sein.

prisma: Wie gehen Ihre Kollegen in der Branche mit den jüngsten Ereignissen um?

Denisov: Es gibt eine starke Abwanderungsstimmung, aber diejenigen, die es durchziehen, hatten diese Pläne auch schon vorher, so wie ich. Das Problem ist oft die Sprache – auf Russisch und in Russland aufzutreten und zu schreiben ist etwas völlig anderes, als für ein internationales Publikum zu arbeiten. Es ist nicht einmal eine Frage der Beherrschung der englischen Sprache – russisches Stand-up und Comedy im Allgemeinen sind in ihrem Wesen meist sehr lokal. Es gibt nicht genug Beobachtung oder Wissen über andere Kulturen und globale Themen, es gibt eine große Scheu, seine Meinung zu äußern, sogar auf humorvolle Weise. Diese Ansätze sind beispielsweise in der amerikanischen und britischen Comedy seit mindestens 30 Jahren maßgeblich. Und andere russischsprachige Märkte sind entweder gar nicht mehr vorhanden, wie in der Ukraine und in Belarus, oder extrem klein, wie in Georgien und Armenien.

prisma: Kennen Sie auch persönlich viele Menschen, die das Land verlassen – oder dies vorhaben?

Denisov: Ich kenne einige Leute aus der Unterhaltungsbranche, die weggehen – aber das sind meist diejenigen, die es sich leisten können, für einige Zeit von ihren Ersparnissen zu leben. Meist sind das Leute, die viele Jahre beim staatlichen Fernsehen gearbeitet haben. Andere, die es noch eiliger haben, zu gehen, sind Videocontent-Ersteller und Blogger, deren Arbeit es ihnen ermöglicht, "digitale Nomaden" zu sein. Einige von ihnen haben schon vor 2022 das Land verlassen. Aber auch sie werden neue Arbeitsmöglichkeiten finden müssen, da YouTube die Monetarisierung für russische Urheber gestrichen hat und die Websites selbst wohl bald in Russland gesperrt werden. Stand-up-Comedians sind am stärksten gefährdet – sie sind an Live-Auftritte und Alltagserfahrungen gebunden; außerdem sind sie nicht so etabliert wie andere Entertainer, so dass viele keine nennenswerten Ersparnisse haben. Ich glaube also nicht, dass viele von ihnen gehen werden.

prisma: Haben Sie derzeit Kontakt zu den Menschen zu Hause?

Denisov: Ja, viele der Leute, die ich kenne, nutzen VPN, um die staatlichen Filter in den sozialen Medien zu umgehen. Ich versuche, mit meinen älteren Verwandten darüber zu sprechen, was vor sich geht, aber das ist schwierig. Sie sind mit mir viel weniger in Kontakt als mit den staatlichen Medien. Aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, Russland jetzt sehr zu vermissen – auch wenn ich früher viel länger im Ausland unterwegs war. Ich vermisse es, weil ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die zumindest emotionale Unterstützung von ihren Angehörigen brauchen. Ich denke, dass ich sie in gewisser Weise im Stich gelassen habe. Viele persönliche und emotionale Bindungen scheinen jetzt viel wichtiger zu sein als früher. Es scheint, als habe jeder die Wahl, in einem Land voller Niedergang und Isolation zu bleiben oder es zu verlassen – nicht unbedingt für etwas Besseres. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun werde.

prisma: Haben Sie dennoch Pläne für die nächste Zeit?

Denisov: Ich habe vor, eine Weile in Berlin zu bleiben und zu arbeiten, und dann zu sehen, was passiert. Aktuell habe ich eine Perspektive für mehr Arbeit in der Unterhaltungsindustrie, außerdem trete ich in Deutschland und anderen EU-Ländern als Stand-up auf.

prisma: Wie sind Sie mit dem ZDF und der "Anstalt" in Kontakt gekommen?

Denisov: Lange bevor die Situation eskalierte, wurde ich gefragt, an der Sendung teilzunehmen. Es sollte eine Show über Russland und den Westen sein, aber in einem viel friedlicheren Kontext. Doch das Drehbuch musste alle drei bis vier Tage umgeschrieben werden, weil sich die Situation änderte – die endgültige Fassung wurde etwa vier Tage vor den Dreharbeiten fertiggestellt. Ich denke, es ist eine gute Sendung geworden und eine wichtige Perspektive im deutschen Fernsehen.

prisma: Wie nehmen Sie den ausländischen Blick auf Russland wahr?

Denisov: Um ehrlich zu sein, machen einige der Sanktionen der westlichen Unternehmen für mich nicht viel Sinn – zum Beispiel die bereits erwähnte Streichung der Monetarisierung auf YouTube. YouTube war bei Weitem die wichtigste Quelle für unabhängigen Journalismus und Aktivismus sowie für kritische Unterhaltung für Russen, und es ist die Hauptquelle für die Verbreitung alternativer Standpunkte. Jetzt können die unabhängigen russischen Journalisten nicht mehr überleben – und die russischen Propagandakanäle brauchten von vornherein keine Monetarisierung. Das ist nur eines von vielen Beispielen für Sanktionen, die die Infrastruktur der unabhängigen russischen Medien zerstören, während sie den offiziellen Propagandakanälen keinen Schaden zufügen.

prisma: Treffen Sie auf Vorurteile gegenüber Russen und Russland seit Beginn des Krieges?

Denisov: Ich weiß, dass es Vorurteile gibt, aber in der Kreativbranche komme ich mit solchen Dingen nicht wirklich in Berührung. Einige Witze, die ich früher gemacht habe, mache ich jetzt nicht mehr – sie wären geschmacklos oder einfach irrelevant. Aber ich merke, dass bei Auftritten, bei denen man sagt, dass man ein russischer Künstler ist, die Stimmung natürlich etwas angespannter ist. Es macht mir jedoch Spaß, mit dieser Tatsache zu spielen – und ich sehe die Erleichterung in der Reaktion des Publikums, wenn es einen russischen Entertainer sieht, der nicht vor dem Thema zurückschreckt, sondern sich artikuliert und deutlich zeigt, dass nicht alle Russen hinter dem stehen, was gerade vor sich geht. Für mich als Comedian änderte sich aufgrund der aktuellen Ereignisse nur eine Sache: Ich musste mein Konzept für einen Auftritt beim Musikfestival Edinburgh Fringe ändern – der Veranstalter sagte, ich könne keine "russische Comedy-Show" mehr veranstalten und müsse sie in eine Art internationales Showkonzept umwandeln. Aber das ist nur eine kleine Unannehmlichkeit – nichts ist im Vergleich zum Leid der Menschen im Kriegsgebiet, die ihre Häuser verlieren.

prisma: Fällt es Ihnen schwer, Witze über die aktuelle Situation zu machen?

Denisov: Es ist wichtig, in dieser Zeit Witze zu machen – obwohl es für mich in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn extrem schwer war, auf der Bühne zu stehen. Für mich geht es in der Comedy um menschliche Verbundenheit und gegenseitiges Verständnis, und oft um die beste Art davon – das gegenseitige Verständnis dessen, was gerade nicht gesagt wird. Es ist die Art von Verständnis, die zwischen engen Freunden herrscht. Ein Komiker kann dasselbe in zwei Minuten auf der Bühne erreichen. Für mich ist das das Wertvollste an meiner Arbeit. Ich glaube wirklich, dass Comedy für das gegenseitige Verständnis zwischen den Kulturen wichtig sein kann. Wenn man es richtig macht, natürlich.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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