Filmkritik

"Tatort: Der Mörder in mir": Drama um einen Jedermann-Täter

18.09.2022, 08.19 Uhr
von Eric Leimann

Ein Anwalt überfährt einen Obdachlosen und begeht Fahrerflucht. Nach und nach gräbt er sich in diesem sehenswerten Stuttgarter "Tatort" eine immer tiefere Grube.

ARD
Tatort: Der Mörder in mir
Kriminalfilm • 18.09.2022 • 20:15 Uhr

Erinnern Sie sich noch an "Columbo"? Im Krimiklassiker mit Peter Falk – die Serie wurde von 1968 bis 1978 produziert, ehe später TV-Filme folgten – war es Usus, dass man zu Beginn einen Täter oder eine Täterin kennenlernte, die einen ziemlich cleveren Mord begingen. Die Spannung des Formats mit dem schluffigen Ermittler im Trenchcoat lag anschließend darin, wie der chronisch von seinen Gegenspielern unterschätzte Inspektor sein Gegenüber einkreiste und schließlich überführte. Auch im neuen Stuttgarter "Tatort" mit Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) ist der Täter bereits ab der ersten Szene bekannt: Top-Anwalt Ben Dellien (Nicholas Reinke) überfährt auf der abendlichen Landstraße bei Starkregen einen Obdachlosen. Der war mit seinem unbeleuchteten Fahrrad unterwegs. Eigentlich hat der Anwalt, der mit seiner Frau gerade das dritte Kind erwartet, außer einem heftigen Aufprall gar nicht viel mitbekommen. War es vielleicht ein Wildschwein? Doch dann folgt der eine Moment, in dem Ben Dellien moralisch falsch abbiegt. Er steigt aus seinem Wagen aus, findet eine fremde Mütze – wohl vom Unfallopfer -, und dann packt ihn die Angst. Dellien kehrt zurück zum Auto und fährt weiter, ohne nachzusehen.

Am nächsten Morgen findet man ein Unfallopfer, das überlebt hätte, wäre die gutbürgerliche Episoden-Hauptfigur nicht einfach abgehauen. Nun nagt das schlechte Gewissen am Fahrerflüchtigen. Doch der Druck, seinen Alltag und Status Quo aufrechtzuerhalten, hindert ihn daran, sich zu stellen. In der Kanzlei soll Dellien bald zum Partner gemacht werden. Auch seine selbstsichere Frau Johanna (mit Kurzhaar-Frisur, Babybauch und schwäbischem Akzent kaum zu erkennen: "In Wahrheit"-Ermittlerin Christina Hecke), ebenfalls gelernte Anwältin, steht auf dem Standpunkt: Dinge müssen erst mal beweisbar und justiziabel sein, bevor sich – am guten Leben – etwas ändern könnte.

Noch eine eher leise, aber ziemlich faszinierende Figur wirkt im Duell der Stuttgart-Columbos gegen den fahrerflüchtigen Anwalt mit: Laura Rensing (großartig: Tatiana Nekrasov). Die alleinerziehende Mutter arbeitet in einer Autowaschanlage, in die Dellien sein Unfallfahrzeug bringt. Blöderweise geht ihr Sohn mit der Tochter des Anwalts in eine Klasse. Kenner wissen: Ohne blöde Zufälle kommt kein Krimi-Plot aus, der von Beweisen und ihrer Vertuschung erzählt.

"Der Mörder in mir" ist ein überaus spannender psychologischer Krimi und gleichzeitig das Drama eines eher weichen Mannes, der sich selbst eine immer tiefere Grube gräbt – sowohl moralisch, wie auch im Sinne des Straftatbestandes. Dass der Mann Anwalt ist, macht diesen überaus klug gebauten Krimi keineswegs unrealistischer. Nein, alle Wendungen sind plausibel, und die Figuren – vor allem der Täter, seine Frau und ihre eventuelle Belastungszeugin – bleiben bis zum Ende in ihrem Tun ebenso nachvollziehbar wie charakterlich ambivalent. Dafür gebührt Autor und Regisseur Niki Stein ("Louis van Beethoven"), ein Altmeister seines Fachs, großes Lob. Nicholas Reinke, ein bisher eher unauffälliger Vielspieler der deutschen Fernsehlandschaft, gibt den Jedermann-Täter mit angemessener Waschlappen-Haftigkeit. Christina Hecke glänzt als schwäbisches Cleverle mit Modellfamilie und Luxus-Designerhaus.

Tatiana Nekrasov ist das Highlight dieses "Tatorts"

Vor allem aber die großartige Tatiana Nekrasov ist ein echter Hingucker und die vielleicht subtilste, beeindruckendste Nebenfigur, die man in der noch jungen neuen "Tatort"-Saison zu Gesicht bekommt. Niki Steins Lieblingsschauspielerin machte bereits dessen Wotan Wilke Möhring-"Tatort: Macht der Familie" über die Melancholie eines Russenmafia-Clans im April 2021 zum Ereignis. Kaum eine Schauspielerin benötigt so wenig "Screen Time" wie die 39-jährige Berlinerin mit russischen Wurzeln, um einen Film besser zu machen.

Seit 2008, immerhin 14 Jahre, schieben Lannert und Bootz nun schon in Stuttgart Dienst. Aus dem Team junger Familienvater (Bootz) und mittelalter Mann mit Geheimnis (Lannert) sind über die Jahre zwei desillusionierte Singles im privaten Dauertief geworden, die auch in der aktuellen Folge wieder mal an ihren Beruf zweifeln. Zwei, die es jedoch schaffen, sich durch kleine Buddy-Gesten gegenseitig immer wieder aufrichten: "Weiter, immer weiter – auch wenn's schwer fällt", könnte im schwäbischen Pflichtenbuch des SWR-Reviers geschrieben stehen.

"Der Mörder in mir" ist nach dem Neujahrs-Fall "Videobeweis" ein weiterer starker Stuttgart-Krimi, der sich mit Fragen der menschlichen Moral und Ethik auseinandersetzt. Spannender als bei Lannert und Bootz werden Philosophie-Grundsatzfragen derzeit wohl nirgendwo in der deutschen Krimi-Landschaft verhandelt.

Tatort: Der Mörder in mir – So. 18.09. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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