ZDF-Kommentatorin im Interview

WM-Reporterin Claudia Neumann: "Manche Argumentation finde ich scheinheilig"

15.11.2022, 14.26 Uhr
von Julian Weinberger

Claudia Neumann wird sich bei der WM in Katar auf das Sportliche konzentrieren – und trotzdem über den Tellerrand blicken. Ein Gespräch über Boykott-Forderungen, scheinheilige Argumentationen – und Uli Hoeneß.

Ab 20. November blickt die Welt nach Katar, wenn der Anstoß zur Fußball-WM erfolgt. Doch bei allen sportlichen Höhepunkten, die das Turnier verspricht, sind die politischen Begleiterscheinungen so präsent wie bei wohl keiner Weltmeisterschaft zuvor. Verletzungen der Menschenrechte, Homophobie, fehlende Nachhaltigkeit – die Wettkämpfe in Katar offenbaren gravierende Probleme, vor allem auch im Vergabeprozess der WM, wie Claudia Neumann kritisiert. Die Kommentatorin reist für das ZDF nach Katar. Zuvor erklärt sie im Interview, welchem besonderen Auftrag das öffentlich-rechtliche Fernsehen bei der Berichterstattung nachkommen muss und warum ein Boykott nichts bringt.

prisma: Es wird eine Weltmeisterschaft werden, die politisch so aufgeladen ist wie selten zuvor. Wie trägt das ZDF diesem Umstand Rechnung?

Claudia Neumann: Indem wir eine üppige Rundumberichterstattung mit allen relevanten Themen bieten. Das konnte man im Kleineren auch schon bei der Frauen-EM erleben, auch wenn es da nicht um Menschenrechte ging, sondern um Gleichberechtigung und Frauenrechte. Da haben wir rund um die Fußballspiele auch die gesellschaftspolitischen Fragen beleuchtet. Bei der Fußball-WM in Katar wird das vom Ausmaß her für viele Zuschauerinnen und Zuschauer ein Novum sein. ARD und ZDF werden da einen ähnlichen Kurs fahren und alle relevanten Themen abseits des rollenden Balls journalistisch aufgreifen.

prisma: Wie werden diese Rahmenbedingungen Ihre Arbeit in der Kommentatorenkabine beeinflussen?

Neumann: Gar nicht, das muss ich offen sagen. Organisatorisch wird das sicher eine gelungene WM, gerade was die infrastrukturellen Dinge angeht, die uns Journalisten und unsere Arbeit betreffen: kurze Wege, Aufenthalt in nur einem Hotel, ohne umziehen zu müssen, moderne Stadien, eine neue U-Bahn. Es war zu erwarten, dass Katar da seinen ganzen Glanz erscheinen lässt. Unter diesem Gesichtspunkt wird vieles positiv sein, was aber nicht den Blick hinter die Fassade "verblendet".

prisma: Auf der anderen, weniger glänzenden Seite der Medaille stehen Verstöße gegen die Menschenrechte, Homophobie und ein antiquiertes Frauenbild. Mit welchem Gefühl reisen Sie nach Katar?

Neumann: Für uns Journalisten mag das Turnier komfortable Umstände mit sich bringen, aber das würde für mich niemals eine WM-Vergabe in solch ein Land rechtfertigen. Werte, die der Fußball transportieren möchte, werden dort sprichwörtlich mit Füßen getreten. Ich war schon zweimal in Katar – als begleitende Journalistin beim Trainingslager des FC Bayern. Von daher habe ich mich in den vergangenen Jahren regelmäßig mit Katar und der dortigen Menschenrechtssituation beschäftigt. Westlichen Besuchern wird der rote Teppich ausgerollt und ein Gefühl von Wohligkeit vermittelt. Im normalen Arbeitsalltag wird uns entsprechend nichts von dem begegnen, was uns darüber hinaus bewegen könnte.

prisma: Was im Sinne der Ausrichter sein dürfte ...

Neumann: Natürlich steckt seitens Katars eine Strategie dahinter. Das ist auch die Krux: Man bietet uns einen idealen Austragungsort an, an dem alles wie am Schnürchen läuft – aber dahinter werden die großen Probleme versteckt. Deshalb ist es auch so sinnvoll, die Berichterstattung zweizuteilen – zum einen die Journalisten, die sich um das Sportliche kümmern, und zum anderen die Journalisten, die über die Geschichten dahinter berichten. Man kann innerhalb eines 90-minütigen Fußballspiels nicht permanent zwischen den Themen wechseln. Damit würde man weder den Sportlern noch den relevanten Themen gerecht.

prisma: Was halten Sie von den Rufen nach einem Boykott, die immer wieder laut wurden?

Neumann: Der Fehler ist 2010 passiert und nicht jetzt. Ich bin gegen einen Boykott und vor allen Dingen dagegen, den Funktionären die Argumentation abzunehmen, dass Themen wie die Menschenrechtslage endlich in der Öffentlichkeit diskutiert werden und Besserung angeschoben wird. Das hatten die Verantwortlichen vor zwölf Jahren aber auch so gar nicht im Hinterkopf – da ging es nur um Geld.

WM 2022 in Katar:

prisma: Ende September sorgte Uli Hoeneß mit einem Anruf im "Doppelpass" für Aufsehen. Er verurteilte Katar-Kritiker und argumentierte, der Sport könne in Katar vieles bewirken. Ist das Augenwischerei oder sehen Sie im Sport wirklich das Potenzial zur Verbesserung der Lage in Katar?

Neumann: Dass der Fokus jetzt da ist und der Sport mit seiner Strahlkraft wirkt, ist sicherlich nicht schlecht. Aber ich würde behaupten, dass das bei der Vergabe damals so überhaupt keine Rolle gespielt hat. Deshalb finde ich so manche Argumentation scheinheilig. Und Uli Hoeneß' Art und Weise, einen Dialog, einen Diskurs zu führen ist wahrlich aus der Zeit gefallen. Natürlich muss man die Perspektive der Kritiker zulassen, aber seine Herangehensweise ist eben jene, die keiner mehr will: Kraftvoll von oben herab die Richtung diktieren ist das zentrale Problem des Fußballs.

prisma: Heißt was?

Neumann: Man muss bei der Vergabe von Sportveranstaltungen konsequent und glaubwürdig sein. Wenn Mindeststandards nicht eingehalten werden, aber nach fünf oder sechs Jahren eine nachhaltige Verbesserung eintritt, kann man über eine Vergabe sprechen. Aber erst mal die Vergabe beschließen, das Geld kassieren und anschließend diese Argumentationslinie aufzunehmen, finde ich definitiv nicht glaubwürdig.

prisma: Trotzdem liebäugelt mit Saudi-Arabien bereits der nächste zweifelhafte Staat mit der Ausrichtung der WM 2030. Welche Kriterien müssten bei der Vergabe vorrangig gelten?

Neumann: Es geht vor allem um Nachhaltigkeit. Außerdem sollte die Akzeptanz der Menschen in dem Land für das Großereignis vorhanden sein. Geld und irgendwelche korrupten Verwicklungen dürfen keine Rolle spielen, aber das tun sie leider. Wenn ich jetzt höre, dass die Asiatischen Winterspiele nach Saudi-Arabien vergeben werden, kann man sich wirklich nur an den Kopf fassen.

prisma: Wie kann man dem entgegenwirken?

Neumann: Es braucht Good Governance und Glaubwürdigkeit. Also eine neue Struktur in den großen Sportverbänden. Und Menschen mit vielfältigen Erfahrungen, Fähigkeiten und Motivationen. Es wirkt immer noch alles ziemlich verkrustet, häufig getrieben von Eigeninteressen. Solche Veränderungsprozesse sind kompliziert, weil diejenigen die vom gängigen System profitieren, Beharrungskraft entwickeln und gegen persönlichen Machtverlust ankämpfen.

prisma: Der Menschenrechtskongress des DFB im September wurde von Fanverbänden kritisiert. Gleichzeitig widersprach DFB-Präsident Bernd Neuendorf FIFA-Boss Gianni Infantino und setzte sich für Entschädigungsfonds zugunsten der Hinterbliebenen der toten Gastarbeiter ein. Wie beurteilen Sie die Rolle des DFB angesichts der herannahenden WM?

Neumann: Das kann ich natürlich momentan nur von außen verfolgen. Bernd Neuendorf als DFB-Präsident ist für mich glaubwürdig in seinem Bemühen, relevante Dinge voranzutreiben. Ich denke schon, dass er die richtigen Themen auf seiner Agenda hat. Trotzdem würde ich mir manchmal klarere Zeichen in allen möglichen Themenbereichen wünschen – eine richtige Weichenstellung, die jeder mitbekommt und die einen Aha-Effekt zur Folge hat.

prisma: Wie schlägt sich Bernd Neuendorf?

Neumann: Er ist immer auch Politiker, er macht das mit sehr viel Ausdauer auf der diplomatischen Ebene. Dass er sich für den Fonds ausgesprochen und sich in puncto Frauenrechte an die Seite von Lise Klaveness, der Präsidentin des norwegischen Fußballverbands, gestellt hat, dass er mit der Bundesinnenministerin im Austausch ist – das sind erst mal gute Bestrebungen. Ich würde mir aber insgesamt noch klarere Kante wünschen.

prisma: Und wie sieht es bei der DFB-Elf aus?

Neumann: Die Mannschaft und der innere Zirkel sind erst relativ spät aufgewacht. Aber der moralische Zeigefinger ist da überhaupt nicht angebracht. Über viele Jahrzehnte war es völlig unüblich im Sport, politische Fragen mitzudiskutieren. Erst jetzt beginnt langsam ein Umdenken. Menschen merken, dass sie mit ihrer Argumentation, Sport und Politik gänzlich voneinander zu trennen, nicht mehr weiterkommen. Den Trend, dass Athleten ihrer Verantwortung gerecht werden und Haltung präsentieren, finde ich begrüßenswert.

prisma: Wie wird nach Ihrer Einschätzung die Rezeption der WM von Fanseite ausfallen?

Neumann: Es ist eine zentrale Frage, ob all diejenigen, die Boykotte angekündigt haben, konsequent bleiben. Wir haben in der Corona-Zeit gesehen, dass ein Großteil der Fan-Szene sehr sachlich und konstruktiv die Mechanismen des Kommerzes hinter dem Fußball kritisiert hat. Einige Macher haben gezittert, ob die Stadien danach wirklich noch voll werden. Und jetzt sehen wir: Die Stadien sind rappelvoll. Bei der WM als Fan einen Boykott konsequent gegen die eigene Leidenschaft durchzuziehen, wohl wissend, dass es auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, – mal sehen!

prisma: Noch dazu findet die WM zu einem ungewohnten Termin im Winter statt ...

Neumann: Ich finde es schrecklich, dass es den Terminkalender so "zusammengepfercht" hat. Alle Spieler sind überlastet. Es gibt nur noch englische Wochen und Wettbewerbe, die keiner braucht, Stichwort Conference League. Aber eine WM mal im Winter zu spielen, finde ich, wenn man die Umstände mal außer Acht lässt, nicht schlimm. Viele machen sich Sorgen, ob das wegen der Weihnachtsstimmung oder mit Glühwein Sinn ergibt – ich könnte mir das ganz witzig vorstellen mit Glühwein und Freunden vor dem Fernseher.

prisma: Wegen des engen Terminkalenders gibt es auch so gut wie keine Vorbereitung. Erwarten Sie eine WM der Überraschungen?

Neumann: Ich befürchte, nein. Ich glaube aber schon, dass sich eine neue Spielergeneration in den Mittelpunkt spielt. Wir werden nicht nur auf Ronaldo und Messi schauen, die ohnehin kämpfen müssen, um noch zur Spitze zu gehören. Stattdessen können Kylian Mbappé, der ja schon etabliert ist, oder Jude Bellingham und auch Jamal Musiala eine große Rolle bei der WM spielen. Es gibt so viele vielversprechende Top-Talente. Bei den Teams tippe ich auf die üblichen Verdächtigen: Auf europäischer Seite sind das Frankreich, England, Spanien und Deutschland, darüber hinaus natürlich Brasilien und Argentinien.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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