Ex-Profi im Interview

ARD-WM-Experte Thomas Broich: "Man hat nicht viel zu gewinnen"

14.11.2022, 10.48 Uhr
von Christopher Schmitt
Esther Sedlaczek und Bastian Schweinsteiger bilden bei der WM 2022 in Katar ein Team. Sehen Sie hier, wer für die ARD bei der Weltmeisterschaft in Katar im Einsatz ist.
BILDERGALERIE
Esther Sedlaczek und Bastian Schweinsteiger bilden bei der WM 2022 in Katar ein Team. Sehen Sie hier, wer für die ARD bei der Weltmeisterschaft in Katar im Einsatz ist.  Fotoquelle: SWR/Christian Koch

Die Teams der übertragenden Sender stehen bei der WM 2022 vor einer großen Herausforderung: Wie findet man die richtige Mischung zwischen kritischer Berichterstattung und sportlicher Analyse? Ein Gespräch mit ARD-Experte Thomas Broich.

Am Sonntag, 20. November, startet in Katar die umstrittenste WM aller Zeiten. ARD und ZDF haben sich einen Spagat vorgenommen: Kritisch über die Missstände im Gastgeberland zu berichten, ohne den Fokus auf das Sportliche zu verlieren. Diese knifflige Aufgabe kommt unter anderem auch auf den ARD-Taktik-Experten Thomas Broich zu. Seit 2018 analysiert der ehemalige Bundesliga-Spieler, der mit Brisbane Roar dreimal die australische Meisterschaft gewann, Partien für die "Sportschau". Der 41-Jährige ist aktuell im Jugendbereich von Hertha BSC tätig und blickt mit gemischten Gefühlen auf die kommende Weltmeisterschaft. Ein offenes Gespräch über ein sportliches Großereignis in Krisenzeiten, Boykott-Aufrufe und neuen Optimismus in der Nationalmannschaft.

prisma: Herr Broich, überwiegt vor der WM bei Ihnen die Vorfreude oder die Skepsis?

Thomas Broich: Ich bin da wirklich hin- und hergerissen. Einerseits bin ich Fußballer durch und durch und freue mich auf ein großes Turnier wie ein kleines Kind. Auf der anderen Seite haben wir aktuell so viele Krisen: Wir haben immer noch eine Pandemie, wir haben den Klimawandel. Es gibt Proteste im Iran und Krieg in der Ukraine. Da ist eine solch kontroverse WM wahrscheinlich noch das "geringere Übel". Dennoch müssen Dinge wie Menschenrechtsverletzungen und Korruption benannt werden. Sich davon freizumachen, gelingt einfach nicht. Das ist wie ein riesiger Schatten, der über allem liegt.

prisma: Wie informieren Sie sich zur Lage in Katar?

Broich: Wir werden entsprechend gebrieft. So haben wir im Vorfeld Termine mit Experten und sogar der Botschaft in Katar. Ich versuche, das Thema in den Printmedien zu verfolgen, Dokumentationen und Talkshows zu gucken. Es ist enorm wichtig, gut über Katar informiert zu sein. Gefährliches Halbwissen ist der Sache nicht dienlich.

prisma: Kritische Berichterstattung haben sich die Öffentlich-Rechtlichen auf die Fahne geschrieben. Wie sehr beeinflusst das Ihre Arbeit als Fußball-Experte?

Broich: Ich muss mir Gedanken machen, wie man das auch wirklich lebt. Das ist eine schwierige Situation für uns alle. Es gilt, eine Haltung zu den Umständen zu finden. So zu tun, als wäre nichts, wäre total falsch. Die ganze Zeit nur darüber zu reden ist für jemanden, der sich an einem schönen Spiel erfreuen will, aber auch nicht cool. Es ist ein schmaler Grat. Egal, wie man es macht, man hat nicht viel zu gewinnen und kann es nicht jedem recht machen.

Broich: Ja, kann ich. Veränderungen brauchen eindeutige Haltungen. Und am Ende muss man vor jedem den Hut ziehen, der tatsächlich so konsequent ist.

prisma: Wie bewerten Sie den Aufruf, dass auch Spieler die WM boykottieren sollten?

Broich: Das wäre ein totales Statement: Einem solchen Spieler würde wahrscheinlich enorme Anerkennung zuteilwerden. Auf der anderen Seite stellt sich auch die Frage: Wie viel soll, kann und darf man Spielern zumuten? Manche trainieren ihre ganze Kindheit daraufhin, dann haben sie plötzlich die Möglichkeit, so ein Turnier zu spielen. Die WM ist vielleicht das Größte, was sie jemals erleben werden. Kann man dann ernsthaft erwarten, dass sie das Event boykottieren?

prisma: Das wäre sicher ein großes Opfer.

Broich: Zumal ja die Verbände das Dilemma verursacht haben. Es bestand keine Not, die WM nach Katar zu vergeben. Dann die Verantwortung zum sozialen Protest den Spielern zuzuschieben, ist schwierig. Gleichzeitig wünscht man sich natürlich Statements – und schon sind wir beim nächsten Thema: Was soll die iranische Nationalmannschaft machen? Ist es die Pflicht der Spieler, aus dem Exil die Bewegung zu unterstützen? Niemandem kann man abverlangen, dafür seine Karriere zu riskieren oder sogar seine Familie zu gefährden.

prisma: Zum Sportlichen: Was hat Bundestrainer Hansi Flick seit August 2021 bewegt?

Broich: Einiges. Vor allem herrscht eine positive, optimistische Grundstimmung. Deutschland war ein bisschen Jogi-müde und brauchte frischen Wind. Ich hatte auch den Eindruck, dass das Aus bei der EURO geprägt war von einer Defensiv-Denke. Von diesem Denken ist Hansi Flick so weit entfernt wie der Mond von der Erde. Seit er da ist, ist wieder Feuer frei: extrem offensiver, intensiver Fußball.

prisma: Die anfängliche Euphorie wurde etwas gedämpft.

Broich: Die Gegner waren vielleicht am Anfang zu leicht, das hat sich etwas relativiert. Doch ich glaube, dass man nicht immer mit einem Wahnsinns-Lauf in eine WM gehen muss. Vor allem ist wichtig, dass die Spieler in Höchstform aufschlagen und sich dort finden. Wenn das in der letzten Länderspiel-Periode nicht ganz so der Fall war, kann man das vernachlässigen.

prisma: Wer darf sich Hoffnungen auf den Titel machen?

Broich: Wenn man sich das Teilnehmerfeld anschaut, gibt es nicht den einen Favoriten. Aber es gibt unheimlich viele Mannschaften, die etwas reißen können. Egal, ob Frankreich, Spanien oder Argentinien: Alle können Weltmeister werden, aber keinem Team ist garantiert, dass es überhaupt die Vorrunde überlebt. Für große Nationen kann unheimlich viel schiefgehen.

prisma: Was braucht es zum ganz großen Wurf?

Broich: Bei solch großen Turnieren, kommt es darauf an, dass die Spieler gut drauf sind und sich eine Art Momentum entwickelt. Italien etwa hatte bei der EURO niemand auf der Rechnung, ich auch nicht. Aber die Italiener hatten einen starken Start ins Turnier und Spieler, die absolut in Form waren. Dann kannst du so einen Sommer auch mal gut rocken.

prisma: Ist das auch für die Deutsche Nationalmannschaft drin?

Broich: Auf so einen Effekt müssen wir hoffen. Wir haben jetzt nicht die Mannschaft, die über den Dingen steht. Aber gerade mit so einem empathischen Trainer wie Hansi Flick und jungen, dynamischen Spielern, ist so was immer drin. Wenn die Deutschen einen Lauf entwickeln, können sie jede Mannschaft der Welt schlagen.

prisma: Als schwierigster Gruppen-Gegner gelten die Spanier.

Broich: Das ist ein unglaublich gefährlicher Gegner, doch dank unserem Tempo und Umschaltspiel ist es eine Partie auf Augenhöhe. Die Spanier haben ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit schon vor längerer Zeit verloren. Dieser Ballbesitzfußball hat nicht immer die nötige Durchschlagskraft. Aber: Wenn sie diese Sicherheit am Ball finden, können die ihren Gegner ersticken. Spanien hat eine kollektive Spielidee und genug individuelle Klasse, um jeden Gegner zu filetieren.

prisma: Dann wären da noch Costa Rica und Japan.

Broich: Costa Rica musst du schlagen, aber Japan ist super unangenehm. Ich habe in Brisbane, als wir in der asiatischen Champions-League gespielt haben, Erfahrungen mit Japanern gemacht. Für mich war es Wahnsinn, wie gut organisiert und technisch versiert die waren. Ich war auch von der Athletik beeindruckt: unglaublich quirlig, antrittsschnell. Entgegen dem Klischee hatten die auch ein paar richtige Latten drin. Viele Japaner spielen zudem in den Top-Ligen.

prisma: Es ist die vermutlich letzte WM für Messi und Ronaldo. Welche Akzente können die beiden noch setzen?

Broich: Wenn man den aktuellen Formverlauf von Messi bei PSG sieht, kann da noch richtig was kommen. Was der, auch ohne das Tempo von früher, wieder für Hütten macht, für finale Pässe spielt: beeindruckend! Für ihn war auch der Gewinn der Copa America mit Argentinien wichtig. So was befreit einen Fußballer, der als einer der größten aller Zeiten gilt, ungemein. Ronaldo kommt bei Manchester United nicht so zum Zug, das beeinflusst sein Standing. Die Portugiesen haben eine krasse Leistungsdichte. Da drängen Spieler nach, und das könnte ein problematischer Mix werden.

prisma: Wem trauen Sie die legitime Nachfolge zu?

Broich: Den Spieler gibt es ja eigentlich schon: Ich denke Kylian Mbappé ist durch seine Anlagen wohl auf die nächsten Jahre hin der prägende Spieler. Der hat ein Tempo, bei dem keiner mitkommt, und eine immense Schuss-Qualität samt variabler Abschlüsse.

prisma: Aktuell arbeiten Sie im Jugendbereich für Hertha BSC. Hilft Ihnen das auch bei Ihrer Experten-Tätigkeit?

Broich: Absolut. Ich schaue dadurch so viel Fußball und gehe ins Detail. Ich muss mir immer die Frage stellen: Was ist es, das die Profis auszeichnet, und wie bringe ich das einem 13- oder 16-Jährigen bei? Die Kunst ist es, Trainingsformen zu entwickeln, die spielnah sind. Dieses Studium bringt mir auch enorm viel, wenn ich über die Profis spreche. Ich habe diese ganzen Szenen im Kopf und kenne einen Kevin de Bruyne in- und auswendig.

prisma: Wie unterscheiden sich die Nachwuchsspieler heute von Ihrer Generation?

Broich: Ich war ja nie in einem Nachwuchsleistungszentrum, sondern habe noch den Oldschool-Jugendfußball kennengelernt. Heute wird schon früh mit Athletiktraining und Injury Prevention – wie beuge ich Verletzungen vor? – begonnen. Für die Mentalität haben wir auch Sportpsychologen am Start. Es geht auch um den Kopf und – auch wenn das große Worte sind – Herz und Seele. Wie bleibe ich fokussiert? Wie werde ich stressresistent? Mir macht das Spaß, weil ich weiß: Auch wenn nicht jeder Profi wird, wird den Jungs diese Ausbildung als Mensch guttun.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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