09.05.2023 ESC-Vorentscheid-Gewinner im Interview

Deutsche ESC-Vetreter Lord Of The Lost im exklusiven Gespräch

Von Felix Förster
Die Band "Lord Of The Lost" will beim ESC 2023 die Punkte für Deutschland holen. Wer hat dieses Jahr die besten Chancen auf einen Sieg? Und wie sieht es bei der Konkurrenz aus?
Die Band "Lord Of The Lost" will beim ESC 2023 die Punkte für Deutschland holen. Wer hat dieses Jahr die besten Chancen auf einen Sieg? Und wie sieht es bei der Konkurrenz aus? Fotoquelle: picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Sie haben es wirklich geschafft: Lord Of The Lost fahren für Deutschland zum Eurovision Song Contest nach Liverpool. Für die Dark-Rock-Band der nächste große Erfolg, nachdem die Band mit ihrem aktuellen Album „Blood & Glitter“ erstmalig Platz eins der deutschen Album-Charts erreicht hatte.  Sänger Christian Simon Krogmann alias Chris Harms äußert sich im prisma-Interview zu den Erfolgen, dem ESC und den Fan-Erwartungen.

Hallo Chris, erst einmal Glückwunsch zu Platz 1 in den deutschen Album-Charts. „Blood and Glitter“ ist das erste Album von Euch, das dort gelandet ist. Wie fühlt sich das an?

Chris Harms: Das fühlt sich ganz verrückt an, zumal wir nicht damit gerechnet haben. Wir haben ja das Album erst sechs Tage vorher in den Vorverkauf gegeben. An Weihnachten kam von uns die Überraschungsmeldung: „Es gibt ein neues Album“. Das kam dann am 30.12 raus. Wir haben das ganz bewusst so gemacht, weil die Musikindustrie sich immer mehr dazu entwickelt, die Promo- und Marketingphasen zu verlängern, um in möglichst vielen Spotify-Playlists zu landen, was man nur kann, wenn das Album noch nicht raus ist. Dieser neuen Art der Musik-Sklaverei, die so ein bisschen die Magie der Alben killt, wollten wir uns nicht fügen und haben gesagt „Komm, wir wollen die alte Magie zurückbringen, die man früher hatte“.

Und dann kam doch Platz 1 dabei heraus…

Chris Harms: Wir haben gedacht, damit opfern wir eine gute Chartplatzierung und haben nicht mal mit den Top 20 gerechnet. Wir wollten die Kunst über den kommerziellen Erfolg stellen. Na ja, auf einmal, ein paar Tage später, fanden wir uns dann im Kampf um Platz 1 wieder, ganz eng mit einer Band hinter uns. Davon haben wir dann unseren Fans berichtet, und die haben dann noch einmal richtig Gas gegeben und das Album gefühlt doppelt gekauft.

Wie erklärst Du Dir diesen Erfolg? „Blood & Glitter“ ist ja eine Abkehr vom Vorgänger-Album aus dem letzten Jahr, das „Judas“ hieß. Das sind zwei sehr unterschiedliche Alben.

Chris Harms: Unser Stil ändert sich immer von Album zu Album, von Konzept zu Konzept. Wir werden auch beim nächsten Album nicht so bunt und glitzernd aussehen wie jetzt und uns wieder etwas Neues ausdenken. Das brauchen wir einfach. Unser letztes Album war schon sehr erfolgreich, wir waren damit auf Platz 2. Wir haben jetzt aber die 1 gerissen, aber wie das genau kommt, weiß ich nicht. Man muss natürlich eine gute Chartwoche erwischen, vielleicht fanden die Leute auch gerade diese Aktion geil, dass sie sagen, endlich kann ich mal wieder diese Magie fühlen, wenn ein Album kommt. Man darf aber auch nicht vergessen, wir waren mit Iron Maiden unterwegs und werden auch dieses Jahr wieder mit ihnen auf Tour gehen, sie haben uns zum zweiten Mal gefragt. Und da hat man natürlich eine Publicity, die sonst nicht jede Band hat. Und da nimmt man schon drei oder vier Fans mit.

Wie kam das mit Iron Maiden zustande?

Chris Harms: Man kann sich bei Iron Maiden nicht als Special Guest bewerben, die suchen sich die Bands aus. Eines Tages rief mich unser Booker an, das war noch vor der Pandemie, Ende 2019, und sagte: „Chris, sitzt Du? Bei mir hat gerade der Booker von Iron Maiden angerufen, und die Band fragt, ob Ihr mit ihnen auf Tour gehen wollt. Auf persönlichen Wunsch der Band.“ Ich dachte, da ist irgendwo eine versteckte Kamera, aber es war dann real und wir hatten auf Tour auch jeden Tag Kontakt mit der Band. Unglaublich tolle Menschen. Kein Iron-Maiden-Fan wäre von denen enttäuscht, sie sind genauso wie man sie sich wünscht.

Da nimmt man sich dann auch etwas mit, oder?

Chris Harms: Ganz große Vorbilder, besonders in menschlicher Hinsicht. Steve Harris, der Bandgründer und Chef der Band, hatte uns auf YouTube entdeckt. Er hat da irgendwelche Videos geschaut und ihm wurde Lord Of The Lost vorgeschlagen, und er hat sich überlegt, ach, das guck ich mir mal an. Und er fand das so gut, dass er gesagt hat, alles klar, die Jungs nehme ich mit auf Tour.

Für das neue Album habt Ihr Euch den Glam Rock der 70er-Jahre als Vorbild genommen und androgyne Outfits gewählt. Wie kam es dazu?

Chris Harms: Ich bin seit jeher ein großer Glam-Rock-Fan. Schon als Kind habe ich die Vinyls meiner Eltern gehört, David Bowie, The Sweet. Mir haben besonders das Artwork und die Fotos gefallen. Der wichtigste Fotograf dieser Zeit, Mick Rock, hat in den 70ern viele wichtige Personen wie Queen, Debbie Harry und The Stooges fotografiert. Anfang der 2000er hat er dann ein Fotobuch über diese Zeit herausgebracht, mit dem Titel „Blood And Glitter“. Dieses Buch hat mich schon vor vielen Jahren inspiriert und es fiel mir wieder in die Hände und ich dachte, das Konzept dieser Bilder muss man irgendwie fortführen. Was für ein Albumtitel, was für ein Songtitel? Und so haben wir mit dem Lebensgefühl dieser Zeit im Herzen und im Kopf dieses Album geschaffen. Unser Album klingt nicht nach 70er-Glam Rock und wir sehen auch nicht aus wie 70er-Glam Rock, aber wir haben überlegt, wie würden David Bowie und The Sweet vielleicht heute klingen. Und das war unsere Inspiration.

Und dadurch gab es wieder diesen Bruch mit den Konventionen, der so typisch für Euch ist. Dadurch wissen die Fans nie genau, was als nächstes kommt.

Chris Harms: Ich habe immer Künstler und Bands geliebt, die sich von Album zu Album neu erfinden. Das fand ich immer viel spannender als genau zu wissen, was kommt. Natürlich gibt es Bands, da erwartet man, dass sie so klingen wie immer. AC/DC haben sich über all die Jahre wenig entwickelt, und das ist bei ihnen auch das Coole. Aber andere Künstler haben sich stets verändert, und ich kann da wieder nur David Bowie nennen. Er war sein Leben lang ein Genre-freier Künstler, jedes Album war eine Wundertüte, bei der man nicht wusste, was passiert. Weder optisch, noch musikalisch. Und das fand ich immer unglaublich interessant.

Lord Of The Lost auf Bowies Spuren?

Chris Harms: Wir machen das auch grundsätzlich deshalb, damit uns nicht langweilig wird. Wir möchten nicht darauf achten müssen, was bei den Fans gut ankommt. Was machen wir denn am besten als nächstes? Das, was am erfolgreichsten war? Doch dann lügt man sich in die eigene Tasche. Dann macht man das zwei, drei Jahre und findet das dann selbst eigentlich gar nicht mehr so geil. Wir haben uns immer gedacht, wenn wir immer das machen, was wir selbst am besten finden und nie jemand anlügen müssen, dann ist das der einzige Weg, authentisch zu sein. So kann man selbst sein größter Fan sein, weil man immer Spaß an dem hat, was man macht.

Viele Fans gehen da ja auch mit. Gibt es aber auch andere Reaktionen?

Chris Harms: Ja natürlich, aber das muss einem dann tatsächlich egal sein. Wir stellen die eigene Meinung über diese Meinungen und müssen dann ganz arrogant sagen: Wir als Künstler müssen am meisten lieben, was wir tun. Nur dann ist es echt, nur dann können wir das weitermachen. Dann muss das einem egal sein. Auf der anderen Seite ist es auch so, wenn du dich nicht veränderst, dann meckern welche, dass du dich nicht weiterentwickelst. Und das ist die gleiche Anzahl wie diejenigen, die sagen: Ihr seid jetzt so anders.

Wie war das denn mit dem ESC-Vorentscheid, den Ihr jetzt gewonnen habt? Da gab es mit Sicherheit auch kritische Stimmen?

Chris Harms: Es gibt viele Leute aus der Alternative-Szene, also aus den Bereichen Metal, Rock, Gothic, die sagen, das wäre Verrat. Wie kann eine Band wie Ihr zum ESC gehen? Das sind aber häufig genau die Leute, die sich im vergangenen Jahr darüber aufgeregt haben, dass Electric Callboy nicht zum ESC gefahren sind, weil es 2022 die Bedingung gab, der Song muss Pop und radiotauglich sein. Die Kritiker sind also genau die gleichen Leute, die sagen, warum öffnet sich der ESC nicht mal offen für neue Musikrichtungen, die jetzt meckern, wenn er sich öffnet. Das sind meistens Leute, die ihr Glück darin finden, zu meckern.

Spätestens seit Lordi 2006 oder auch mit Oomph oder den Gewinnern vom letzten Mal, Maneskin, ist der ESC doch auch rockiger geworden. Die Berührungsängste gibt es beim ESC also schon länger nicht mehr, oder?

Chris Harms: Wir haben diese Berührungsängste sowieso nicht. Unser Credo lautet, so lange wir authentisch und unverbogen sind und uns so darstellen können wie wir das wollen, sowohl optisch als auch klanglich, dann soll uns doch jede Bühne recht sein. Warum soll man sich da einschränken und Angst vor dem Mainstream haben? Überhaupt ist der Mainstream doch sowieso nur etwas, das durch die Anzahl der Zuhörer bewertet wird. Sobald einen mehr Leute als vorher hören, ist man doch auch plötzlich Mainstream. Dadurch verändert man ja nicht, wie man bisher geklungen hat. Also die alten Alben klingen jetzt nicht plötzlich anders.

Wie kamst Du denn auf die Idee, beim ESC mitzumachen? Hattest Du die Idee schon länger?

Chris Harms: Wir hatten die Idee schon länger. Ich habe schon als Kind sehr gerne den Grand Prix geguckt, weil ich das schon immer unglaublich interessant fand und musikalisch und Genre-technisch sehr offen bin und da großen Spaß an der Vielfalt habe. Wir haben uns tatsächlich in den letzten Jahren immer beworben, wurden aber nie genommen. Letztes Jahr sind wir dann sogar relativ weit gekommen, haben es aber nicht in die TV-Show geschafft, weil da ja wie gesagt ein anderes Konzept gefahren worden ist. Wir haben das aber nicht an die große Glocke gehängt, dass wir nicht genommen worden sind. Wir haben es dann einfach wieder probiert. Der NDR als Ausrichter des Vorentscheids hat dann gesagt, lass es dieses Jahr möglichst bunt gestalten, um möglichst viele Genres abzudecken.

Euer neues Konzept passt momentan einfach gut, oder?

Chris Harms: Das neue Blood & Glitter Konzept passt witzigerweise wirklich wie Arsch auf Eimer, obwohl es nie für den ESC geschaffen wurde. Aber da kommt auf einmal eins zum anderen. Aber das ist auch wieder etwas, das uns jetzt aus der Metal- und Gothic-Szene vorgeworfen wird, dass wir uns mit Absicht mit dem neuen Konzept nur an den ESC angepasst hätten. Dabei haben wir mit dem Konzept bereits Mitte 2021 angefangen, haben Songs geschrieben und das Album vor einem Jahr aufgenommen. Wir haben jetzt nicht auf einmal – zack – ein ESC-Album rausgehauen.

Was soll es überhaupt? Man kann ja einem Künstler nicht vorwerfen, wenn die Bausteine ineinandergreifen. Das nennt man Fügung.

Chris Harms: Aber das sind immer die Leute, die ernähren sich selbst durch Hass im Internet. Das ist eh eine Kultur für sich, eine sehr traurige. Es gibt eben Leute, die brauchen das. Die werden immer meckern, die wird es immer geben und die gab es, glaub ich auch, immer schon. Die waren nur früher nicht so sichtbar.

Wie ist der ESC in Deiner Geschichte verortet? Gibt es da eine Verbindung?

Chris Harms: Es gab in meiner Kindheit und Jugend diese jährlichen Familienfernsehveranstaltungen wie Wimbledon, alle paar Jahre Fußball-WM und -EM, Formel-1-Rennen, alle paar Monate Wetten dass…? Und einmal im Jahr gab es den Grand Prix und später eben den ESC. Das sind die typischen Dinge, bei denen man zusammenkommt, die man zusammenschaut, wo man mitfiebert. Das habe ich als Kind schon geliebt, wobei ich mich an keine Einzelheiten oder einzelne Künstler erinnern kann, das war ja immer so ein Overflow an Informationen und Eindrücken, auch visuell. Als ich dann mit 20 von zu Hause ausgezogen bin, war das für ein paar Jahre erst einmal uncool, aber damals war alles uncool (lacht). Und dann bin ich tatsächlich mit Lordi wieder zurückgekommen. Und habe dann wieder gemerkt, den ESC gibt es ja auch noch, das ist ja cool.

Das ging vielen so, in Deutschland wurde der ESC ja quasi wiederentdeckt, da gab es einen wahren Boom, bevor es in den vergangenen Jahren etwas abgeflaut ist. Wie siehst Du das?

Chris Harms: Ich fand die ganzen Sachen, die Stefan Raab gemacht hat, cool, sowohl die komödiantischen Beiträge als auch den Bundesvision Song Contest im Vorfeld, sehr interessant. Ich habe auch Lena verfolgt, aber mein Herz hat nie für einen Künstler geschlagen, das passt nicht so richtig zu mir. Ich mag eher die Veranstaltung an sich: Was machen die verschiedenen Künstler? Wie stellen sie sich visuell auf der Bühne dar? Was gibt es für Musikrichtungen, die man noch nicht kennt, auch wenn sich das meiste im Populärbereich bewegt? Gerade die Verbindung aus folkloristischen Elementen mit Pop und früher mit den verschiedenen Sprachen und wie Kulturen zusammenkommen durch die Sprache der Musik, fand ich immer wunderbar. Von daher ist der ESC jetzt nicht etwas, worüber ich die Nase rümpfen müsste, weil ich jetzt ein Metal-Musiker bin. Ich empfinde diese Verhaltensweise als überaus unreif. Das ist genauso unreif wie jemand, der nur Popmusik hört, Max Giesinger oder Johannes Oerding, und der sagt, Metal-Typen sind doch alles nur so dreckige, langhaarige Spacken. Das ist genauso unreif. Gerade wenn man immer Akzeptanz predigt und selber toleriert werden will mit seinem Sub-Genre, dann muss man diese Toleranz auch der großen, anderen Allgemeinheit auch geben. Aber das schaffen die Wenigsten.

Ich glaube aber, dass die Grenzen da auch fließend sind. Ich finde es sehr sympathisch, dass Du sagst, schon seit Kindesalter großer Roxette-Fan zu sein. Auf dem neuen Album covert Ihr nun „The Look“ gemeinsam mit Jasmin Wagner alias Blümchen. Wie kam das zustande?

Chris Harms: Ich kenne Jasmin durch unseren Keyboarder. Für meinen lang gehegten Traum eines Roxette-Covers haben wir nach einer Duett-Partnerin gesucht, erst im Gothic und Metal-Genre, aber das fand ich alles nicht interessant. Das erschien mir zu einfach, nicht fordernd genug. Ich wollte auch hier einen vollkommenen Kontrast setzen und vor allem jemanden finden, der meine Liebe zu Roxette teilt und das war Jasmin. Jasmin ist exakt meine Generation, sie ist im selben Jahr zu Roxette gekommen – als Kind. Wir waren also direkt auf einer Wellenlänge. Ich habe sie einfach gefragt, und sie hat sofort ja gesagt. Und dann haben wir auf derselben Scheibe ein Duett mit Marcus Bischoff von Heaven Shall Burn, einer super-harten Band.

Größter kann der Kontrast ja nicht sein?

Chris Harms: Nein, es geht kaum brachialer als Heaven Shall Burn. Trotzdem passt es irgendwie zusammen. Heaven Shall Burn haben es auch gut abgefeiert, dass Blümchen dabei ist (lacht).

Diese Offenheit liegt natürlich auch daran, dass Du Produzent bist. Wenn man sich Deine Arbeit etwa mit Nino de Angelo oder Joachim Witt anschaut, deren Platten Du produziert hast…

Chris Harms: Oder Ferris MC…

…Hip-Hopper, ehemals Deichkind. Was nimmst Du von dieser Arbeit mit?

Chris Harms: Ich habe sehr früh gemerkt, dass ich als Produzent und Musiker kein Spezialist bin und auch nicht sein möchte, sondern ein Generalist. Ich kann in vielen Richtungen ein bisschen, und das ist meine Superkraft: diese vielen Dinge zusammenzuführen. Diese musikalische Offenheit als Produzent und Songwriter hilft mir, dass mein Job spannend bleibt. Ich kenne durchaus Sub-Sub-Genre-Produzenten, die nur das eine Metal-Genre produzieren, das ganze Leben lang und darin perfekt sind. Davor habe ich großen Respekt, aber ich würde eingehen. Ich brauche die Vielfalt. Insbesondere die Arbeit mit Joachim Witt, der über 70 ist, und das Ganze immer noch mit der Leidenschaft eines jungen Mannes macht. Die Gespräche mit ihm sind unglaublich inspirierend. Wir waren gerade zusammen essen und haben einen wunderschönen Abend gehabt und lange gesprochen. Da zu merken, dass das Brennen für Musik nichts mit dem Alter zu tun hat, gibt mir unheimlich Kraft. Genauso wie die Freundschaft zu Joachim.

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