Kunstvolle Popmusik und starke Statements sind selten gemeinsam anzutreffen. Sind Songs persönlich, haben sie für manche zu wenig gesellschaftliche Relevanz, sind sie politisch, tritt die Musik oft in den Hintergrund. Aber man kann auch alles zusammen haben: die Rede ist von der Zürcher Musikerin Gina Été. Seit ihrer beeindruckenden EP "Oak Tree" von 2019 wird sie in internationalen Medien in einem Atemzug mit Sophie Hunger und Björk genannt. Dabei sind die Vergleiche gar nicht nötig – und können die Einzigartigkeit der Schweizerin und ihrem Hybrid Pop auch nicht einfangen.
Die ausgebildete Bratschistin, die außerdem Klavier und Synths spielt, singt auf Deutsch, Schweizerdeutsch, Englisch, Französisch. Sie schreibt Songs zwischen Trauer, Wut und Hoffnung, mal akustisch, mal elektronisch, allein und mit ihrer Band, mal rhyth-misch vertrackt, mal jazzig, komplex arrangiert, aber es trifft einen dann doch unmittelbar, setzt sich in Kopf und Ohr fest. prisma sprach mit ihr anlässlich der Veröffentlichung ihres Debutalbums "Erased By Thought".
Du singst in vier verschiedenen Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und Schwyzerdütsch. Wo fühlst Du Dich am wohlsten und wovon hängt ab, in welcher Sprache Du textest?
Mit den Songs ist das so ähnlich wie mit den Selbstgesprächen. Führst Du auch Selbstgespräche? Alors, wenn ich eine Situation analysiere oder mein Verhalten reflektiere, führe ich öfters Selbstgespräche auf Englisch oder auf Französisch. Diese Fremdsprachen schaffen eine gewisse Distanz zu mir, es fällt mir dadurch leichter, meine Situation von außen zu betrachten und zu beschreiben. Entsprechend schreibe ich auch Songtexte, welche vielleicht größere Kontexte kritisch beleuchten, auf Englisch oder Französisch. Starke Gefühle hingegen wie Wut oder Trauer kann ich am Besten auf Schweizerdeutsch oder Deutsch formulieren, nur in diesen Erstsprachen kann ich die Emotionen treffend in Worte fassen.
Du wirst mit Björk verglichen, andere Einflüsse reichen von Aimee Mann über Radiohead bis hin zu der Post-Pop-Bewegung. Wo würden Du Deine Musik selbst verorten?
Ach wie schön, die allererste CD, die ich als Sechsjährige erhielt, war nämlich "Magnolia" von Aimee Mann. Ich höre das Album bis heute! Die meisten Vergleiche, die ich höre, sind auch tatsächlich Lieblingskünstler, die Umgebung stimmt also. Aktuell nenne ich meinen Stil Hybrid Pop und finde die Google-Erklärung dazu sehr treffend: "Hybrid bedeutet von zweierlei Herkunft oder aus Verschiedenartigem zusammengesetzt. Im Hybridmotor werden zwei unterschiedliche Antriebe vereint." Die Liste des Zwiespalts oder der Zweierlei-Herkunft in meiner Musik ist endlos! Akustisch-elektronisch, Solo-Band, Schweiz-Europa, Selbsterfüllung-Weltverbesserung, Experimental-Pop, persönlich-politisch… Und ich glaube auch, dass ich zwei grundlegend verschiedene Antriebe für das "Mit-Musik-Auftreten" in mir vereine.
Dein erstes Album "Erased by Thought" besticht durch seine Vielfältigkeit. Es wurde analog in San Francisco aufgenommen. Wie aufwendig war es, diese sphärischen Klänge so "althergebracht" zu erschaffen?
Tatsächlich war die Aufnahme viel effizienter und zielgerichteter, als ich das von "normalen" Produktionen gewohnt bin. Wir konnten keine Stimmen tunen, keine Takes zusammenschneiden, keine Drums zurechtrücken. Auch hatte das Band nur 24 Spuren, also eine begrenzte Länge, und ist teuer, man kann sich entsprechend nicht in 100-spurigen Song-Arrangements verlieren und den zehnten Take mit dem ersten vergleichen. Wenn wir einen Take nicht mochten, haben wir ihn direkt mit dem neuen überschrieben, jede Entscheidung war somit endgültig. Dadurch sparten wir viel Zeit mit Takes aussuchen und hatten umso mehr Zeit für die Musik und das Ausprobieren neuer Synthesizer, Gitarrenamps, Trommeln oder analoger Effektgeräte.
Viele junge Musiker gehen den einfachen Weg, Stichwort Musiksoftware, Casting-Shows, etc. Du gehst einen völlig anderen, auf den ersten Blick beschwerlicheren Weg. War das eine bewusste Entscheidung?
Musiksoftware benutze ich auch, gerade arbeite ich viel mit Ableton und Sibelius. Allerdings habe ich mich mit diesem Album bewusst gegen geschliffenen, mainstream-tauglichen Perfektionismus und für individuelle Ecken und Kanten entschieden. Und ja, gewisse Mainstream-Radios finden das bestimmt keine gute Idee. Wegen Casting-Shows: Ich glaube nicht, dass Kapitalismus- oder Systemkritik, Feminismus und der Wunsch nach persönlichem Ausdruck sich total gut mit Gewinner-orientierten, Geld-generierenden Casting-Shows vereinbaren lassen. Auch finde ich mein Leben als selbstständige Musikerin, die in diversen Projekten mitwirkt und für ihr eigenes Projekt Songs schreibt, gerade wunderbar; Casting-Shows hingegen würde ich eher als einen sicher sehr beschwerlichen Weg bezeichnen. Aber jeder das ihre.
Was müsste die Musikindustrie für aufstrebende, talentierte, junge Künstler wie Dich machen?
Diese Adjektive, da werde ich ganz rot! Ich glaube, es liegt nicht einmal nur an der Musikindustrie, sondern einfach an der Gesellschaft insgesamt: Etwas mehr Vertrauen in junge Menschen, Bereitschaft für Veränderung, finanzielle Unterstützung für Menschen und Projekte, die einen Weg abseits der üblichen Jobangebote und des Mainstreams gehen möchten. Ich bin schon sehr froh darüber, dass aktuell die Diskussionen zu Sexismus und Gender-Quoten auch in der Musikszene geführt werden. Es trägt einen großen Teil dazu bei, dass ich mich in der Szene wohler fühle, wenn ich bei einem Festival nicht die einzige Frau bin, mir bei einem Soundcheck geglaubt wird, dass ich mein Mikrophon an der Viola platzieren kann, nach einem Auftritt nicht nur mein Aussehen gelobt wird und bei einer Jam-Session niemand überrascht reagiert, wenn ich nach Gehör die Akkorde mitspielen kann.
Ein neues Album inmitten dieser Zeit mit Auftrittsverboten, Lockdown: Wie erreichst Du Deine Fans? Gibt es virtuelle Auftritte oder sind vielleicht schon wieder "normale" geplant?
Im letzten Jahr war der meiste Austausch virtuell, viel mehr blieb ja nicht übrig. Manchmal fiel es mir auch schwer, mir vorzustellen, dass sich gerade trotz allem Menschen meine Musik anhören und diese ihnen wichtig ist. Die Frage kam natürlich auf, ob ich mit der Veröffentlichung warten soll, bis ich wieder auftreten kann – jedoch habe ich in der Zwischenzeit schon wieder genügend neue Songs geschrieben, um ein weiteres Album aufzunehmen. Wenn ich mit meiner Band wieder unbeschwert auftreten kann, folgt vielleicht einfach direkt das zweite Album. Konzerte sind geplant, im Moment fast nur in der Schweiz, da diese mit den Maßnahmen etwas liberaler umgeht, doch auch in Deutschland und Frankreich sollte ich im Herbst auftreten – sehen wir uns da?
Du bist ausgebildete Bratschistin, stammst aus einem Musiker-Haushalt. Wie sehr beeinflusst die klassische Musikausbildung Deine Herangehensweise an die Musik?
Ich bin im Gegensatz zu den herkömmlichen Musiker-Klischees tatsächlich ziemlich organisiert, liebe Struktur – in der Musik wie im Leben – und kann es in Bandproben auch nervig genau nehmen, wenn etwas nicht so ist, wie besprochen. Die Klassik ist auf dem Album auch hörbar: Ich spiele selbst Viola und habe bei einigen Songs das Streichquartett arrangiert.
In Deinen Texten bist Du sehr politisch, setzt Dich für den Klimaschutz, Feminismus und Flüchtlinge ein. Bei vielen Künstlern wirkt das mittlerweile wie eine Pose, die richtig sitzen muss. Du selbst unterscheidest Dich da, warst etwa auf Lesbos, um das Lager dort zu sehen, und hast die Erfahrungen im Song "Trauma" verarbeitet. Wie siehst Du Deine Rolle bzw. die Rolle der Kunst in diesem Zusammenhang?
Ich bin der Auffassung, dass alles was wir tun und sagen politisch ist. Alles, was wir unterlassen und verschweigen, ist ebenso politisch. Alors, Wegschauen ist auch eine Form von Beteiligung am Weltgeschehen. Kunst wäre demnach so oder so politisch, ob sie das will, oder nicht. Und als Künstlerin erreiche ich wohl Menschen, die von sich glauben, unpolitisch zu sein, nur weil sie sich nicht mit mehrheitlich (sorry) alten, weißen, superreichen Männern in Anzügen identifizieren können. Die Chance möchte ich nutzen und finde es wunderbar, wenn dies immer mehr Künstler tun. Die Frage nach meiner eigenen Rolle in diesem riesigen Getriebe stelle ich mir allerdings oft. Es ist meine größte Angst, dass mein "Beitrag" in Form von Musik sinnlos, oder eben doch nur eine Pose der Selbstinszenierung ist.
Deine Heimat, die Schweiz, ist eine direkte Demokratie und für viele von der hiesigen Politik Ernüchterte eine Art Sehnsuchtsort. Zu Recht?
Oh je. Also ich kann mir nur ausmalen, wie frustrierend es ist, wenn man alle vier Jahre einmal zwischen dem einen oder anderen Übel auswählen muss. Die Wut auf das politische System ist in der Schweiz kleiner, wer sich einbringen will, hat Möglichkeiten dazu. Doch die Schweiz ist sehr konservativ, und es bestimmt trotz allem, wer am meisten Geld hat und die Angst schüren kann, "wir würden unsere Wirtschaft zerstören." Ganz ehrlich: Es ist 2021 und es wurden gerade zwei Wochen Vaterschaftsurlaub angenommen – nur zwei Wochen – die Ehe für alle Geschlechter kommt noch einmal vor das Schweizer Volk, weil es 50.000 protestierende Unterschriften gab. Kann das ein Ort der Sehnsucht sein?
Live-Auftritte sind momentan nicht möglich, wie sehr fehlt Dir das Publikum?
Ein Raum voller aufmerksamer Menschen, die zuhören, zurufen, auf die Musik reagieren, die mir Energie verleihen, die ich alleine nie im Leben aufbringen könnte.. Dieses Gefühl ist unersetzlich!!!
Wann kann man Gina Été wieder live sehen?
In der Schweiz fand am 2. Juni in Zürich das erste Konzert statt, weitere folgen. Für Deutschland und Frankreich planen wir ab Oktober/November, doch es steht vieles noch nicht fest. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nur sagen, die zuverlässigsten Updates zu Konzertdaten findet Ihr immer auf Instagram, Facebook oder meiner Homepage, ich gebe mir Mühe mit den Updates. Auftreten bleibt auch nach 2020 meine Lieblings-Art des Musik Teilens, wir sehen uns bestimmt sobald möglich irgendwo!