11.10.2016 Interview

"Ich fühlte mich stehengeblieben"

Silke Burmester: "Das Problem ist, dass diese Trauer zwar viele Frauen haben, darüber aber kollektiv nicht gesprochen wird."
Silke Burmester: "Das Problem ist, dass diese Trauer zwar viele Frauen haben, darüber aber kollektiv nicht gesprochen wird." Fotoquelle: Eva Haeberle

Die Kinder loszulassen, wenn sie erwachsen sind, kann weh tun. Silke Burmester hat über diese Erfahrung ein beeindruckendes Buch geschrieben.

"Mein Kind wird erwachsen, und was werde ich?" Mit dieser lapidaren Frage hat die Journalistin Silke Burmester ihr Buch "Mutterblues" untertitelt, eine schonungslose, persönliche Abrechnung mit einem Tabu: der Trauer um das Großwerden und Loslassen der eigenen Kinder. Im Interview spricht sie über ihren Schmerz, das Älterwerden und darüber, warum Frauen sich besser in Politik und Gesellschaft einbringen sollten, statt Törtchen zu backen.

Frau Burmester, Ihr Buch zu lesen, ist auch für einen Mann ohne Kinder berührend und schmerzhaft. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, dass ich nach der Lektüre keine Kinder mehr bekommen möchte, was würden Sie antworten?

Dass das unglaublich schade ist. Dass das, was auf dem Weg liegt, bis der Schmerz kommt, so großartig ist, dass es ihn wert ist. Aber er ist natürlich auch gerade deshalb so groß, weil es so toll ist.

Das Thema Abschiednehmen zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Buch. "Mein Sohn ist bereit, ich bin es nicht", schreiben Sie, für den Abschied von ihm seien Sie noch nicht reif gewesen. Glauben Sie, dass Mütter überhaupt die Chance haben, eine Reife zu erreichen, die ihnen diesen Abschied möglich macht, ohne zu leiden?

Es gibt ja Frauen, denen das nicht so schwer fällt, ich aber fühlte mich irgendwie stehen­geblieben. Von mir aus hätte das ewig weitergehen können, die Mutterrolle und das süße Kind, vielleicht auch, weil ich nur das eine habe. Aber selbst wenn man sich gewappneter fühlt, wird ein Schmerz da sein. Das ist einfach unglaublich traurig.

Sie schreiben auch, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch ganz viele letzte Male gibt. Woran liegt das, dass man das so sieht? Das Leben ist ja mit 18 noch nicht vorbei.

Sie können sich ausmalen, was kommt, aber immer nur rational. Die Trauer ist aber stärker, und in dem Moment, in dem etwas zum letzten Mal passiert, wird einem das unglaublich bewusst – dass zum Beispiel das letzte Schuljahr anfängt. Sie haben zwölf Jahre mit dem Kind die Schule erlebt, und bei uns war das ab dem Gymnasium nicht mehr so lustig. Insofern war ich zwar froh, als die Schule endlich durch war, aber das waren eben auch meine letzten zwölf Jahre. Doch auch andere Sachen sind vorbei. Wir haben immer „Der letzte Bulle“ zusammen geguckt, aber auf einmal ist das nicht mehr interessant, und dann sitzen Sie da und denken: „Soll ich den jetzt alleine gucken?“ Und das ist traurig, und wenn man das spürt, ist es schwierig, an die Zukunft zu denken, von der man nicht weiß, wie sie wird.

Der Psychologe Claus Koch rät Eltern für die Zeit nach dem Auszug: "Tritt zurück, aber bleibe verbunden. Loslassen, aber auf der anderen Seite dem Kind das Gefühl geben: Ich bin weiter für dich da. Und die Kinder kommen lassen. Lass sie anrufen. Bloß keine Kontrolle." Was sagen Sie dazu? Und: Freuen Sie sich auf die kommenden Jahre?

Mein Sohn ist vor fünf Monaten ausgezogen, und ich kann das nachvollziehen. Nach seinem Umzug hatte ich das Gefühl, dass 19 Jahre Verantwortung von mir abfallen. Ich war so erleichtert! "Du bist nicht mehr zuständig!", habe ich gedacht. Und natürlich ist es gut, wenn man gewisse Sachen nicht mehr mitbekommt, das macht das Loslassen viel einfacher. Wenn man sich dann trifft, und er erzählt zum Beispiel von einem Festival, ist das ein sehr nettes Sichbegegnen, weil ich eben nicht mehr die nervige Mutter bin.

Sie haben eine Zeit lang sogar geglaubt, sie könnten eine narzisstische Störung haben und nach den Symptomen gegoogelt, dabei wissen wir alle, dass genau das das Schlimmste ist, was man tun kann, weil sonst aus einem Kribbeln in der Nase ganz schnell ein Tumor wird. Haben Sie das in dem Moment hinterfragt?

Bei mir war das so stark war, dass ich mich schon gefragt habe, ob da nicht tatsächlich etwas aus dem Gleichgewicht ist, so sehr hat es mich aus der Bahn geworfen. Gleichzeitig war ich ja nicht sozial auffällig oder habe Psychosomatiken ausgeprägt. Deshalb gab es so etwas wie einen Kontrollblick, der geprüft hat, ob ich mich damit ernsthaft hätte auseinandersetzen müssen. Und als ich merkte, dass es anderen Frauen auch so geht, war ich ein Stück weit beruhigt. Das Problem ist, dass diese Trauer zwar viele Frauen haben, darüber aber kollektiv nicht gesprochen wird. Und das ist nicht gut, das war auch der Impuls, dieses Buch zu schreiben, damit auch andere merken, dass sie nicht plemplem sind und man darüber reden kann – auch, damit das Umfeld versteht, was los ist. Mein Sohn hat gesagt, das Buch wäre für ihn unglaublich interessant gewesen, weil er verstanden hätte, warum ich oft so doof bin. Oder ich habe mit einem Freund gesprochen, der große Probleme in seiner Ehe hatte. Er ist dadurch darauf gekommen, dass die Veränderungen bei seiner Frau begonnen haben, als die Tochter kurz vor dem Abi davon gesprochen hat, ins Ausland zu gehen. Auf einmal konnte der seine Frau verstehen. Ich fände es großartig, wenn durch das Buch Verständnis für die Situation von Frauen entsteht – vor allem, wenn man bedenkt, dass in dieser Phase die Wechseljahre noch oben drauf kommen.

Haben Sie eigentlich während das alles passiert ist, auch darüber gesprochen? Mit Ihrem Sohn zum Beispiel?

Nein, ich finde es wichtig, dass man die Kinder da nicht mit reinzieht. Das ist ja keine gleichberechtigte Liebesbeziehung, in der einer geht. Unsere Kinder sind in einer ganz großartigen Situation, da geht die Tür ins Leben auf, einer der großartigsten Momente, die man sich vorstellen kann. Unsere Situation als Eltern ist eine komplett andere, da kann ich aber das Kind nicht für verantwortlich machen. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich mich zwar irrsinnig für ihn freue, dass er sich zum Beispiel eine WG sucht, das aber für mich auch traurig ist. Das hat ein wenig Druck rausgenommen.

Die Freiheit, Energie und Sorglosigkeit der Kinder stellen Sie dem gegenüber, was die Eltern verloren oder freiwillig aufgegeben haben. Gibt es aber nicht auch etwas, das man als Eltern dazugewinnt, einen Ausgleich?

Wir reden ja über den Verlust, das Leben aktiv zu gestalten und sich Freiheiten rauszunehmen, wie die Kinder es als Jungerwachsene ja tun, und ich glaube, da gibt es keinen Ausgleich für. Vielleicht einen vermeintlichen: Weil wir Geld haben, können wir uns Dinge kaufen, aber die sind ja nicht das, was uns glücklich macht. Schön, wenn man sich einen gewissen Lebensstandard leisten kann, aber die wirkliche Freiheit, die man in dem Alter noch hat, verkaufen wir – muss man sagen – gegen Anstand und Geld. Das ist es, was bleibt – und das ist sehr kümmerlich.

Sie schreiben auch von einer gewissen Gnadenlosigkeit, mit der sich die Kinder von ihren Eltern verabschieden. Können Sie die inzwischen verstehen? Hat sie einen Zweck?

Mit Sicherheit ist es nicht nur Gnadenlosigkeit, sondern auch eine gewisse Unschuld. Denen ist ja nicht klar, wie verletzend das ist, und sie haben auch das Recht zu so einer Deutlichkeit. Ansonsten ist es sicher so, dass die Gnadenlosigkeit den Abschied leichter macht, denn für die Kinder ist das ja auch nicht alles nur toll und leicht. Ich glaube, das muss sogar so sein, die Kinder haben alles Recht, sich erst mal nur für sich und ihre Freunde zu interessieren, jeder Freund ist in der Phase doch zehn Mal toller als ich.

Sie schreiben aber auch darüber, wie es für Ihre Generation war, sich von den Müttern zu lösen. Was glauben Sie, wie das für die Generation Ihres Sohnes werden wird?

Ich kann das für diese Generation nicht sagen, ich habe ja nur die Erfahrung mit meinem Sohn, der vielleicht auch eine besondere Mutter hat, sehr emanzipiert, selbstbewusst und eigenständig. Ich bin zwar sehr mütterlich, aber ich entspreche so gar nicht diesem Bild einer Mutter, die sich Rezepte aus Zeitschriften holt oder ihr Selbstbewusstsein daraus zieht, fürs Kindergartenfest etwas Tolles beizusteuern. Und man muss dazu sagen, dass mein Sohn auch einen sehr emanzipierten Vater hat, der nicht in dieser tradierten Männerrolle hängengeblieben ist.

Neben diesem Bild gibt es ja noch ein anderes: Frauen sollen heute alles im Griff haben: Karriere, Haushalt, Kinder, die Gefühle am besten auch. Haben Sie diesen Anspruch auch gespürt und hat er eine Rolle gespielt?

Nein, bis vor ein paar Jahren war das noch entspannter – zumindest in meinem Umfeld. Eine Frau, die den Kuchen für den Kindergeburtstag nicht selbst macht, gilt heute ja als schlechte Mutter. Dieser Blick auf das Überflüssige und sich daran zu messen, daran, wer den tolleren Cupcake-Guss hinkriegt, war nicht so extrem.

Sie sagen von sich, dass Sie sich dem immer verweigert haben. Aus welcher Haltung heraus?

Weil ich finde, Frauen sollten sich mit wesentlichen Dingen beschäftigen – Politik, Aufstieg, Emanzipation –, aber nicht mit so einem Quatsch. Emanzipation heißt ja, sich von einer Macht zu befreien. Ich finde es wichtig, dass wir eigenständig sind, dass wir uns in die Politik einbringen und die Gesellschaft gestalten. Aber nicht Törtchen.

Wenn ich an meinen eigenen Auszug denke, ist es vor allem der Ort, den ich vermisse, das Elternhaus, das Zuhause. Spielt dieser Begriff für Sie eine Rolle?

Ja, weil ich das von mir kenne, und ich war wirklich gnadenlos mit meinen Eltern. Aber dieser Ort, dieses Wohlbekannte, der Geruch, zu wissen, wo Dinge stehen, das Geräusch der Dose, aus der man sich über Jahrzehnte sein Müsli geholt hat – das gibt Sicherheit. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder wissen, sie können zurückkommen, egal was sie getan haben, selbst wenn die Eltern sich verändern und der Ort nicht mehr da ist.

Im Zusammenhang mit dem Älterwerden beschreiben Sie sehr eindringlich die Menopause, den Verlust der Fruchtbarkeit, das "Aussortiertwerden" durch Männer, aber auch die Rollenzuschreibungen und was das mit Ihrem Selbstvertrauen gemacht hat. Hat all das auch Einfluss auf Ihre Trauer gehabt?

Das Blöde war, dass das alles zeitgleich kam – auch der Prozess, zu sehen, wie der Körper sich extrem verändert, und das nicht zum Positiven. Sie kommen in einen Schrumpelmodus und können dabei zuschauen – wie im Zeitraffer. Das ist schwer auszuhalten, weil ich innerlich noch eine andere bin. Und die anderen Sachen kommen dazu. Sie merken: Es guckt keiner mehr, ich komme nicht mehr in Frage, viele Frauen werden beruflich in die zweite Reihe verbannt. Das müssen Sie ohnehin gerade alles verknusen und dann kommt noch das Kind und sagt: „Geh mir nicht auf die Nerven mit deiner Fürsorge. Ich mache das ohne dich.“ Da erleben Sie unglaublich viel Ablehnung. Wer da nicht in ein Loch fällt: Hut ab.

Irgendwann bleibt man geistig stehen, sagen Sie, der Körper aber macht einfach weiter.

Das ist ohnehin ein großes Thema unserer Gesellschaft ...

Und durchaus auch ein Männerproblem ...

Ja, aber auch der älteren Generationen. Menschen ab 60 nehmen sich als zehn Jahre jünger wahr – mit wenigen Ausnahmen. Aber stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich noch jung und frisch, Ihr Körper ist aber alles andere als frisch. Das ist schon schwierig. Aber klar, Männer trifft das auch, die sind ja auch in den Wechseljahren, wie man heute weiß.

Das Buch hat auf der Rückseite ja auch den schönen Hinweis: "Mit Väter-Kapitel". Dafür haben Sie mit Männern gesprochen und beschreiben, wie diese leiden, allerdings habe ich da das Gefühl, es geht weniger um Trauer, als um Sorge und Angst.

Bei dem einen Vater ist wirklich ganz, ganz viel Trauer dabei, als ich den habe sprechen hören, dachte ich, da rede ich. Bei dem anderen ist in der Tat Sorge dabei. Aber das ist ja auch berechtigt, wenn Kinder aus dem Haus gehen, sind sie zum Teil ja noch wirklich unreif. Die wissen noch nicht, was sie wollen und wo sie stehen, das ist auch die große Zeit der Grenzauslotung – Stichwort Drogen, Alkohol, Durchmachen. Das ist keine ungefährliche Zeit.

Bei so einem Buch kommt man gar nicht drum herum zu fragen, ob das auch ein Stück Selbsttherapie ist – und es liest sich ja auch nicht wie ein Ratgeber. Dennoch: Glauben Sie, man kann sich auf das, was Sie beschreiben, vorbereiten?

Ich habe das Buch schon aus Gründen der Klärung und des Klarwerdens geschrieben, ja. Das musste raus. Und ich habe es geschrieben für Leute, die selbst in der Situation sind. Was die Vorbereitung angeht, ist es mit Sicherheit leichter, wenn man eine funktionierende Partnerschaft hat. Aber auch dann ist es gut zu wissen, dass es schwierig werden kann. Ich schreibe ja auch: "Warum hat mir keiner gesagt, dass die Zeit so kurz ist?" Wenn man sich das vergegenwärtigt, kann man vielleicht anders mit seinen Kindern umgehen.

Inwiefern?

Ich finde, die brauchen auch mal Nachsicht, gerade wenn sie doof sind – oder in der Schule schlecht, alles nicht so wild, das kann man auch mal ein bisschen lockerer sehen. Schule ist wirklich nicht das Maß aller Dinge.

Ist das vielleicht etwas, das Sie aus den Erfahrungen mitnehmen können?

Mir tut es um die Zeit leid, die damit vertan wurde, dass ich mich an Stellen unnötig aufgeregt habe, und da zählt die Schule dazu, obwohl ich das schon relativ locker gesehen habe. Man regt sich doch über viele Dinge viel zu sehr auf. Ich glaube, man darf insgesamt mal ein bisschen entspannen.

Nun haben Sie als Journalistin natürlich das große Glück, ein solches Buch überhaupt schreiben zu können. Welche Möglichkeit haben denn andere Eltern, damit umzugehen? Oder muss man das einfach aushalten?

Nein, das ist genau das Falsche. Ich finde es wichtig, dass man drüber redet. In Berlin gibt es eine Selbsthilfegruppe, meines Wissens nach die einzige in Deutschland, aber es gibt ja auch die Möglichkeit, sich im Netz auszutauschen oder natürlich mit Freundinnen. Dieser Austausch ist das Entscheidende, das ist wie bei einer Trauergruppe. Isolation und Rückzug sind der falsche Weg, die Gefühle suchen sich sonst selbst ihren Weg – häufig über körperliche Symptome. Mir war dabei meine Freundin eine große Stütze. Nur wenn ich darüber rede, kann ich irgendwann auch drüber lachen, auch über mich selbst, dann fällt mir auch die ganze Absurdität auf, die da drin steckt. Alleine komme ich aus sowas nicht raus.

Eine der eindrücklichsten Stellen in Ihrem Buch ist das Zitat einer Mutter, die beim Anblick ihres erwachsenen Sohnes denkt: "Scheiß, jetzt muss du bald sterben." Ging Ihnen das auch mal so? Und: Haben Sie Angst vor dem Tod?

Diese Momente des Erschreckens, weil innerhalb von einer Sekunde klar wird, dass da sich etwas verändert hat, gab es schon. Aber ich habe sein Großwerden nie mit meiner Endlichkeit in Verbindung gebracht. Natürlich wird einem der eigene Alterungsprozess vor Augen geführt, aber mit dem Tod hatte das für mich nichts zu tun.

Ohne den Lesern zu viel zu verraten, liest sich das Ende des Buches dann aber doch recht tröstlich, als würde alles gut. Ist das so? Wird alles gut?

Ja, für mich ist es so, dass es tatsächlich mit dem Auszug leichter geworden ist, weil dadurch diesem Schrecken ein Ende gesetzt wurde. Das hatte etwas sehr Erleichterndes – auch aus dieser Mutterrolle rausgehen und sagen zu können: "Ich bin nicht mehr zuständig." Ich muss auch nicht mehr wissen, ob er seine Wäsche wäscht, das ist nicht mehr meins. Ich kann loslassen. Zum Glück ist es mir aber auch komplett erspart geblieben, in ein Loch zu fallen. Es gibt jetzt keine Leere.

Das Interview führte Florian Blaschke.

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