02.05.2017 Literatur

Alles andere als normal

Von Florian Blaschke

Entwurzelte Menschen, unentdeckte Regionen, ungewöhnliche Begegnungen und warmherzige Beobachtungen: Wir stellen Ihnen vier Neuerscheinungen vor, die auf keinem Nachttisch fehlen dürfen.

Mit "Ullstein fünf" hat der Ullstein-Verlag einen Ableger geschaffen, der es sich zum Ziel gesetzt hat, junge, ungewöhnliche Literatur zu fördern. Wie gut das gelingt, zeigt "Betrunkene Bäume", der Debütroman der in Hannover geborenen Autorin Ada Dorian. Darin erzählt die bereits für den Bachmann- Preis nominierte Schriftstellerin die Geschichte von Erich, einem ehemaligen Forscher, expeditionserprobt und einsam. Mit seinen über 80 Jahren ist er wie einer dieser windschiefen Bäume, denen er auf seinen Reisen nach Sibirien begegnet ist: isoliert, in Schieflage geraten, entwurzelt.

Auch Katharina geht es so. Die Abiturientin ist gerade von zu Hause abgehauen – und auch wenn sie in ihrem Leben noch lange nicht so viel erlebt hat: Auch sie ist einer dieser "betrunkenen Bäume", denen Dorians Roman seinen Titel verdankt. Und dann, eines Tages, begegnen sich Erich, der eine Schuld mit sich herumträgt, und Katharina, die auf der Suche zu sein scheint. Und Dorian, die beschreibt diese Begegnung und ihre lebensverändernde Wirkung auf beide so mühelos und klar, mit nahbaren, klassischen Figuren, dass man kaum glauben mag, es hier mit einer Nachwuchsautorin zu tun zu haben. Ein großer erster Wurf.

Infos zum Buch: Ada Dorian: "Betrunkene Bäume", Ullstein- Verlag, 272 Seiten, 18 Euro (E-Book: 14,99 Euro).

Wir Menschen neigen dazu, auf uns bekannten Wegen zu bleiben. Auf Autobahnen richten wir uns nach Karte und Navi, in den Städten vertrauen wir uns dem Nahverkehr an, selten nur nehmen wir mal eine Abzweigung, die ins Unbekannte führt. Aus Angst? Aus Gewohnheit?

Robert Macfarlane macht es genau andersherum: Der 1976 in England geborene Autor hat seine Heimat abseits der großen und kleinen Routen erkundet, überall da, wo es keine Beschilderung mehr gibt, wo Karten keinen Weg mehr weisen, hat er sich umgeschaut und die Natur erkundet. Eine Art Tagebuch dieser Reisen, "Karte der Wildnis", ist jetzt als Paperback erschienen.

Dieses kleine Buch ist ein Augenöffner für alle Stadtmenschen und diejenigen, denen der Bezug zur Natur abhandengekommen ist – oder abhandenzukommen droht. In Dialogen mit großen Autoren wie Thoreau, Stevenson oder Orwell, aber auch in eindrücklichen Beschreibungen schildert Macfarlane Wetter und Unwetter, Landschaften und Begegnungen in einer dichten, prosaischen Sprache und mit einer eigentümlichen, packenden Poesie. Ein Buch wie ein Aufbruch.

Infos zum Buch: Robert Macfarlane: "Karte der Wildnis", Ullstein-Verlag, 304 Seiten, 15 Euro.

Niah Finnik ist ein Mensch, der viel Routine braucht. Die immer gleichen Wege, die immer gleichen Lieder, das immer gleiche Essen – mindestens eine Zeit lang. Wie Finnik es geschafft hat, einen Roman zu schreiben, ein Werk also, für das Routine der Tod ist, ist eines der vielen Rätsel ihres Debüts. Doch Finnik, eine Asperger-Autistin, die 1988 geboren wurde, hat genau das getan. Und herausgekommen ist nicht nur eine großartige Erzählung, sondern auch ein Blick auf die Welt, der seinen ganz eigenen Nachhall hat.

Erzählt wird in "Fuchsteufelsstill" die Geschichte von Juli, 27 Jahre, ebenfalls Autistin. Nach einem missglückten Suizidversuch kommt sie in die Psychiatrie, wo sie auf Sophie und Philipp trifft. Sie: überdreht-herzlich, Diagnose "Bipolare Störung"; er: durchaus anziehend für Juli, Diagnose "Schizophrenie". Für Juli, die schon die "normale" Welt mit all ihren Farben, Gerüchen und Geräuschen oft überfordert und die mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat, eine Begegnung mit Folgen. In Herzensangelegenheiten, aber auch bei der Frage, was eigentlich normal ist. Dieses Buch jedenfalls ist es nicht. Zum Glück.

Infos zum Buch: Niah Finnik: "Fuchsteufelsstill", Ullstein-Verlag, 272 Seiten, 14,99 Euro (E-Book: 12,99 Euro).

Was bloß können wir unseren Kindern vermachen? Geld? Land? Haltungen? Was geben wir ihnen mit durch Erziehung, durch unsere Handlungen, den gemeinsamen Weg? Das fragt sich auch der namenlose Protagonist von Jochen Schmidts neuem Roman "Zuckersand". Wenn der seinen Sohn Karl dabei beobachtet, wie er einen Seifenspender benutzt oder einen Regenschirm, wenn er beschreibt, wie er sich beim Anziehen verhält oder beim Einkaufen, dann ist das zunächst die warmherzige, liebevolle Schilderung eines Vaters über seinen zweijährigen Sohn. Doch Schmidt wäre nicht Schmidt, wenn es bei dieser Roman-Ebene bleiben würde.

Denn dieser Vater erlebt während all der Beobachtungen nicht nur seinen Sohn, sondern auch und vor allem sich selbst. Wie in einem Dialog ohne Worte spielen diese beiden Protagonisten da ihr Spiel und was sie dabei am Ende aufdecken, sind kulturelle Überlieferungen, Topoi des Alltags und die großen Fragen über uns selbst. Im Mikrokosmos dieser beiden Figuren, die eine entdeckend, die andere beobachtend, steckt demnach nicht weniger als das Leben. Ein Blick vom ganz Kleinen auf das ganz Große.

Infos zum Buch: Jochen Schmidt: "Zuckersand", Verlag C.H. Beck, 206 Seiten, 18 Euro (E-Book: 13,99 Euro).

Das könnte Sie auch interessieren