Reise

Rotterdam: Eine Stadt baut vor

Von Tobias Toll
Rotterdams Markthal: angekommen im 21. Jahrhundert.
Rotterdams Markthal: angekommen im 21. Jahrhundert. Fotoquelle: Gerard Koudenburg/shutterstock.com

Mit Nostalgie nichts am Hut: In Rotterdam schlägt das Herz einer neuen Architektur. Die Markthal setzt Maßstäbe für künftige Urbanität.

Wer Architektur vor allem als Reise in die Vergangenheit betrachtet, wird in Europa an vielen Orten fündig. Besonders auch in Deutschland, wo neue Stadtschlösser lieber auf alt getrimmt werden, als dass man sich auf das Wagnis unseres Jahrhunderts einließe.

Anders die Niederlande. Dort hat sich Rotterdam, die Stadt mit dem geringsten Bestand an alter Schönheit, zu einem Mekka der Zukunftsbast ler entwickelt. In Rotterdam kann besichtigt werden, wie es denn weitergehen könnte mit unseren Städten, sofern sie nicht der Einfallslosigkeit beamteter Stadtplaner oder architektonisch minderbemittelter Politiker anheimfallen.

Einem Science-Fiction-Film entsprungen

"Rotterdam", staunte vor einigen Jahren die New York Times, "wird für die Architektur mehr und mehr zu dem, was Paris für die Mode und Los Angeles für das Entertainment ist." Beim jüngsten Streich handelt es sich um eine Art Langhaus, wie wir es von Indianerbauten kennen. Nur dass die Rotterdamer Variante gleich 200 Meter lang ist und eher einem Science-Fiction-Film von Roland Emmerich entsprungen zu sein scheint als dem Nützlichkeitsdenken von Naturvölkern und Niederländern.

Die Rede ist von der "Markthal" in der Nähe der U-Bahn-Station Blaak (wo Rotterdam vor 800 Jahren gegründet wurde). Königin Máxima hat die Markthalle am 1. Oktober 2014 eingeweiht, ein furchterregender Bau, wenn dunkle Wolken über ihn hinwegziehen, ein galaktischer Palast, wenn ein nachmittäglicher Sonnenstrahl den Eingangsbogen der Markthal in außerweltliches Licht taucht.

Aluminium-clean

Wie hoch ist dieser Eingangsbogen, den Fensteröffnungen wie Scharten durchlöchern? Egal, es mögen neun Stockwerke sein, wir haben nicht nachgezählt. Wichtig ist, dass und auf welche Weise er den Raum öffžnet für 100 Ladenlokale, für Nippes- und Frittenstände, für ein städtisches Zentrum, wie es das in Deutschland, London oder Mailand nicht annähernd gibt. Der frühere sogenannte Bauch von Paris, "Les Halles", mag in seinen wimmeligen Etagen und Funktionsschichten eine entfernte Ähnlichkeit gehabt haben, aber gewiss nicht so aluminium-clean wie sein Rotterdamer Enkel.

Der Clou der Markthal: Sie beherbergt 300 Wohnungen, zwischen 80 und 300 Quadratmeter groß. Diejenigen, die sich direkt über der Halle befinden, weisen Sichtböden in den geschäftigen Abgrund auf – unter mir der Tulpenstand!

Aber auch die Wohnungen an den Flanken der Markthal sind dem Treiben im Innenraum über Balkone verbunden.

Als "Food-Walhalla" verspottet

"Food-Walhalla" spöttelte die örtliche Presse – bis sie anerkennen musste, wie sehr das Nebeneinander/Ineinander von Wohnen und Markt, von privat und öffentlich und von Riesenfresken aus 400.000 Megapixeln an der Wand auf eine neue Form von Urbanität hinausläuft.

Die Wohnungen nebenan liegen in ihrer Mehrzahl preislich deutlich unter dem Luxus- Level.

Die Planer – das sind der Projektentwickler Provast, das Architekturbüro MVRDV, Künstler wie Iris Roskam und Arno Coenen – haben zusammengebracht, was sonst streng voneinander getrennt gedacht und gebaut wird: Wohnen und "Einkaufszentrum", wenn dieser angestaubte Begrižff erlaubt ist.

Nicht weit entfernt finden sich die inzwischen weltberühmten Kubushäuser von 1984. Es handelt sich um 40 gewöhnliche Häuser, die um 45 Grad geneigt wurden. Eine Würfelspitze ragt jeweils nach oben, derweil die unteren Enden auf quadratischen Stelen balancieren. Kaum zu glauben, aber es lässt sich darin wohnen.

Startort der Tour de France

Rotterdams Erasmusbrücke hat sich in vielen Hollywoodstreifen und auch als Startort der Tour de France 2010 bewährt; der Volksmund nennt sie "der Schwan" wegen ihrer geknickten weißen Pylone. Nahebei das Hotel New York mit seinen Jugendstildekorationen, einer Bar und einem Buchladen.

Rotterdam, ehemals nur als Hafen geschätzt, setzt Skyline gegen Speicherhäuser, futuristische Theater- und Telekom-Bauten von Peter Wilson und Renzo Piano gegen Bürgerhäuser mit Erker und Rosen im Vorgarten. Die Stadt baut vor. Einstweilen zählt Rotterdam 600.000 Einwohner. In wenigen Jahrzehnten soll eine Million daraus geworden sein.

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